Jürgen Gründkemeyer, Chefarzt und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin der Clemens-August-Jugendklinik in Neuenkirchen-Vörden gestaltet seinen Vortrag bei der Tagung der Arbeitsgemeinschaften Jugendvollzug der evangelischen und katholischen Gefängnisseelsorge dynamisch. “Malen Sie einmal einen Hund”, gibt er die Aufforderung an die 15 TeilnehmerInnen aus dem Bundesgebiet weiter. Tatsächlich kommen verschiedenartige “Hunde” aufs Papier. Der eine sieht aus wie ein Krokodil, der andere wie ein Frosch”, sagt einer der Teilnehmer. “Seelisch krank – Was ist normal, was nicht”, das ist das Überthema der einwöchigen Studientagung in der Katholischen Akademie Cloppenburg-Stapelfeld.
Die Einladung einen Hund auf das Papier zu bringen hat einen Hintergrund. Jede und jeder malt das Tier aus verschiedenen Blickwinkel und aus seiner Lebens- und Erlebniswelt. “Ich bringe Ihnen meinen `Hund` aus meiner Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit”, sagt der erfahrene Psychiater und Kinderarzt. Von Persönlichkeitsstörungen, Suizidabsichten bis hin zu Impulsstörungen berichtet er lebensnah und den jungen Menschen zugewandt. Viele Geschichten kann der Arzt erzählen. Er ordnet es mit den GefängnisseelsorgerInnen ein. “Sie könnten auch Seelsorger sein”, sagt einer der Teilnehmer, weil “Sie menschenfreundlich einfühlend mit den Jugendlichen arbeiten”, führt er aus. Gründkemeyer kennt den Jugendvollzug nicht. Er hat allerdings viele Erfahrungen mit “auffälligen” Jugendlichen gesammelt, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auftauchen. So erzählt er von den Deeskalationsstufen bei Aggressionspotenzialen und der Herausforderung, diesen nicht mit Gegengewalt zu antworten.
Hintergründe jugendlicher Inhaftierter
Von der Praxis berichten die Psychologinnen der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Iserlohn anderntags. Wie umgehen mit psychisch auffälligen Gefangenen? Anhand von Fallbeispielen führen Heike Mohr und Jennifer Mielenz die Gruppe der GefängnisseelsorgerInnen in die Erfahrungswelt junger Inhaftierter ein. “Es geht um Beziehungsaufbau und wie wir Persönlichkeitsstörungen nicht nur als Krankheit verstehen, sondern ebenso als Ressource”, sagt die Psychologin Mohr. Eine gestellte Diagnose kann oft das Leben eines Jugendlichen bestimmen. “Daher soll bei einer Borderline-Störung bis zum 21. Lebensjahr nicht festgemacht werden, dass dies chronisch ist. Im Jugendalter entwickelt sich das noch”, erläutert Mielenz. Die GefängnisseelsorgerInnen bringen “konkrete Fälle” ihres Dienstes ein. Da ist ein Jugendlicher, der mit dem Gefängnisseelsorger auf “Anerkennung” aus ist und gesehen werden will. “Die Jugendlichen sind so geworden, wie sie sind und das hat einen Hintergrund”, berichten die Praktikerinnen. Die Biographiearbeit sei wichtig sowie das “mittanzen” zu einem gewissen Punkt. “Wenn die Beziehung stimmt, kann man vorsichtig Rückmeldung geben, die dann auch angenommen wird”, sagen die Psychologinnen.
Bogen spannen
Abends gibt es die Gelegenheit, mit der Dozentin der Akademie Stapelfeld, Judith Rönker, das Bogenschießen auszuprobieren. Im Leben gäbe es verschiedene gegenteilige Spannungen, die in sich harmonieren können, sagt die seit dem 16. Lebensjahr begeisterte Sport-Bogenschießerin. “Das Loslassen des Pfeiles ist oft das Schwierigste dabei” führt sie aus. Loslassen ist im Leben nicht einfach zu gestalten. Das Ziel vor Augen zu haben, mit Spannung und Entspannung gut umzugehen sowie auf die eigene Körperhaltung zu achten, sind wichtige Indikatoren für einen guten Umgang mit allem, was einem im Leben begegnet”, erläutert sie. “Störungen” wollen behandelt werden, allerdings nicht in dem Sinne, dass kein “Anders-sein” mehr möglich sein kann.
Strukturiertes Übergangsmanagement (sÜM)
Die neu eingerichtete Stelle in Nordrhein-Westfalen zum Übergangsmanagement stellt die Leiterin des Sozialdienstes der JVA Herford, Martina Twelenkamp, vor. Etwa 88 % weisen laut einer Studie eine aktuelle psychische Erkrankung oder Persönlichkeitsstörung der Jugendlichen auf. Die meisten leiden unterer mehreren Störungen gleichzeitig. Die Substanzabhängigkeiten dominieren mit bis zu 70 %. Daneben finden sich affektive und posttraumatische Belastungsstörungen beispielsweise bei Geflüchteten aus Kriegsgebieten. Mit den üblichen vollzuglichen Maßnahmen seien psychisch erkranke Gefangene nicht erreichbar. Eine Initiative gelungener Projekte sind die Psychiatrische Haftnachsorge-Abbulanzen (pHNA), die es in Städten wie Bielefeld oder Paderborn gibt. Unterschwellig werden dort Angebote gemacht, die Betroffene nutzen können.
Besuch der JVA Vechta für Jungtäter
Nachmittags besucht die Gruppe der GefängnisseelsorgerInnen die Justizvollzugsanstalt Vechta. An der Schleuse werden die TeilnehmerInnen vom Anstaltsleiter Dr. Manfred Krohn empfangen. Dieser weist auf eine Besonderheit der JVA hin: Ein Schwimmbad ist in den 80er Jahren mit Eigenmitteln gebaut worden, das bis heute für die Gefangenen in den Sommermonaten genutzt werden kann. Vor allem die Ausbildungsbetriebe nehmen das Angebot an. Damit wird ein Anreiz für die Jungtäter im Alter von 22 bis 32 Jahren geschaffen, sich gut zu verhalten. In der Anstaltskirche stehen der stellvertretende Anstaltsleiter und die Psychologin für die inhaltliche Auseinandersetzung in der Vollzugspraxis zur Verfügung. Bei Kaffee und Kuchen kann das Gespräch mit zwei Gefangenen geführt werden. Einer davon wird anderntags entlassen. Was denn “besonders in der JVA Vechta wäre?, fragen die aus dem Bundesgebiet stammenden GefängnisseelsorgerInnen. Zur Antwort bekommen sie, dass es dazu wenig zu berichten gäbe. Mit Ausnahme, dass die Inhaftierten Privatkleidung tragen dürfen.
Michael King