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Ver-rückte Welt: Was die Seele im Knast macht

23. April 2024

Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland tagt zu ihrer 75. Jahrestagung in der Oberlausitz in der Tagungsstätte Schmochtitz. Rund 80 GefängnisseelsorgerInnen sind der Einladung der Vorbereitungsgruppe aus den Justizvollzugsanstalten der Länder Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt gefolgt. Das Thema des einwöchigen Zusammentreffens ist der Umgang mit psychisch Kranken im Strafvollzug. „Man hat in der Vergangenheit und auch partiell heute zu sehr die Diagnose im Fokus, aber nicht die Biografie des Menschen“, sagt der Referent der Auftaktveranstaltung Prof. Dr. Thomas Bock.

Der psychologische Psychotherapeut ist Leiter der Ambulanz für Psychosen und bipolare Störungen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er ist einer der Mitbegründer des trialogischen Vereins Irre menschlich Hamburg e.V. von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Therapeuten. „Wir trauern zu wenig und lassen Ängste zu wenig zu. Es gibt ein fliegender Übergang zwischen krank und gesund. Zwänge haben beispielsweise eine Funktion“, sagt Prof. Dr. Thomas Bock. „So banal das klingen mag: Für Therapeuten heißt das erst einmal, zuhören zu lernen, sich dem anderen zuzuwenden und wahrzunehmen, was er wahrnimmt. Es geht um eine Zuordnung von Lebenserfahrungen. Was hat das krisenhafte Geschehen mit dem Individuum zu tun?“, erläutert der Fachmann aus eigener Erfahrung. Als Gefängnisseelsorgende gäbe es einen besonderen Zugang zu den Menschen im Knast, so Bock weiter.

Lebens-Erfahrungen integrieren

Igor Lindner, Vorsitzender der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, will die gute Arbeit von TherapeutInnen nicht in Abrede stellen. So fragt er, ob eine psychische Erkrankung im Vollzug erst dadurch ausgelöst oder verstärkt wird. „Sind wir nicht alle ein wenig ver-rückt, je nachdem in welchen Situationen wir sind?“, sagt Lindner in seiner Eröffnungsrede. Schon im ersten Testament hadern Menschen mit ihrer Situation. Prof. Dr. Alexander Deeg von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, führt die Bibelstelle 2 Könige 20, 1-11 an. Dort bekommt König Hiskia vom Propheten Amos gesagt, dass Gott über ihn sage, er müsse sterben. Hiskia wendet sich ab, weint bitterlich und rechtfertigt sich vor „dem Herrn“, er habe doch alles getan. Schließlich willigt Gott ein und lässt ein Pflaster von Feigen bringen, das ihn weitere 15 Jahre durch die eintretende Heilung schenkt. Prof Deeg lässt von den Teilnehmenden die Bibelstelle laut vorlesen und in Murmelgruppen besprechen. „Sie sind viel besser als alle Kommentatoren zu dieser Bibelstelle“, sagt Deeg hochachtungsvoll. „Ihre Schlussfolgerungen sind genial“, lobt er die GefängnisseelsorgerInnen. „Sie bringen Ihre Erfahrungen und nehmen andere Blickwinkel ein, dies sei in der Begegnung mit erkrankten Menschen wichtig“, sagt der Professor für Praktische Theologe.

NeueinsteigerInnen und internationale Gäste

Internationale Gäste aus Österreich, der Tschechei und Slowakei sowie aus Ungarn bereichern das Treffen. Von der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. nimmt Michael King teil. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Schwesterkonferenz. Dr. Ahmed Arfaoui als muslimischer Seelsorger der JVA Dresden stellt sich in einem Grußwort vor. Im Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung arbeitet er als Referent an der Entwicklung muslimischer Seelsorge im Justizvollzug. Die bearbeitete Bibelstelle 2 Könige könne er als Predigt in seinem Freitagsgebet nutzen, meint der Absolvent des Musa-Zertifikates in Augsburg. Eine bunte Mischung von GefängnisseelsorgerInnen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Seelsorgekonzepten treffen sich jährlich. Vier NeueinsteigerInnen bekommen in der Mitgliederversammlung eine Tasse als Willkomens-Geschenk überreicht. Die Ausbildung „der Neuen“ wird in einem sogenannten Klinischen Seelsorgekurs (KSA) seitens der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge angeboten.

„Ich war krank und Ihr habt mich eingesperrt“

Unter diesem Titel fand anderntags eine Podiumsdiskussion unter Fachleuten statt. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Markus Rudolf Damula, macht den Auftakt. „Im Strafvollzug ist man ausgeliefert. Es soll theoretisch nicht so sein, aber de facto ist es so“, kritisiert er die Behandlung psychisch Erkrankter im Vollzug“, positioniert sich der niedergelassene Psychiater. Elke König-Bender als Anstaltsleiterin der JVA Chemnitz erläutert, warum dies so ist: „Wir sind in der Aufnahme oder im Haftverlauf mit Menschen konfrontiert, die Persönlichkeitsstörungen und Psychosen aufweisen. Wir haben keine Fachleute dafür. Im Grunde genommen können wir gar nicht behandeln. Auch ein Anstaltsarzt ist für solche Situationen nicht gewappnet“, erzählt die Juristin. Daher sei ein Networking mit Ambulanzen und niedergelassenen Ärzten draußen sowie dem Justizvollzugskrankenhaus dringend notwendig.

Der Leiter der Forensischen Psychiatrie im Städtischen Klinikum St. Georg im Leipzig, Jörg Bischof, hat eine klare Antwort auf die Aussage ´Ich war krank und Ihr habt mich eingesperrt´: „Im Grunde genommen ist eine Behandlung in einer beschützenden und therapeutischen Gemeinschaft besser als im Vollzug“, betont er. Der Richter am Amtsgericht Döbeln, Wolfgang Dammer, verweist auf die Grundlagen im Sächsischen Strafvollzugsgesetz und dem Schutz der Allgemeinheit. „Die Podiumsdiskussion war nicht sehr nicht weiterführend“, sagt eine Gefängnisseelsorgerin aus dem Saarland kritisch. „Die Personen untereinander haben in ihren jeweiligen Professionen keine alternativen Vorschläge gemacht“, so resümiert die erfahrene Gefängnisseelsorgerin. Am Ende steht der Satz: „Viele haben eine posttraumatische Belastungsstörung oder Traumata. Es gilt Sinn zu vermitteln, obwohl alles sinnlos erscheint“, so der Psychiater Damula. Er muss es wissen, denn er baute in der sächsischen JVA Zeithain eine suchttherapeutische Station mit auf. Programm

Michael King

 

Wechsel im evangelischen Vorstand

Bei der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland gibt es einen Wechsel im Vorstand. Christine Ostrick von der JVA Tegel muss aufgrund der zeitlichen Stellenbegrenzung seitens ihrer Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zurücktreten. Ebenso zurückgetreten ist aus Überlastungsgründen die Schriftführerin Anna Becker von der bayerischen JVA Aichach.

In der Mitgliederversammlung wurden als Nachfolger für den stellvertretenden Vorsitzenden Carsten Schraml von der JVA Köln (ab 1. Mai 2024 von der JVA Rheinbach) gewählt sowie als Schriftführer Jan Teichert von der JVA Torgau. Beide Ämter sind für die laufende Legislaturperiode auf zwei Jahre bis zur nächsten Wahl begrenzt. Die 76. Jahrestagung widmet sich dem Thema „Bunter Vogel Freiheit“ und findet Mitte Mai 2025 in Berlin-Brandenburg statt.

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Von links nach rechts: Schatzmeister Dr. Frank Fechner (JVA Luckau-Duben), Carsten Schraml (JVA Rheinbach), Christiane Ostrick (JVA Berlin-Tegel), Vorsitzender Igor Lindner (JVA Offenburg), Anna Becker (JVA Aichach), neuer Schriftführer Jan Teichert (JVA Torgau) und Heike Richter (JSA Berlin).

 

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