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Der ver-rückte Ort des Knastes hinterlässt Spuren

22. April 2024

Mit m/einem Namen bürgen. Im Namen Gottes und die Dinge beim Namen nennen. Namen haben Geschichte, wecken Fantasien und Sehnsüchte. Den Familiennamen und den Vornamen haben wir uns nicht selbst aussuchen können. Und doch scheint manches Mal der Name so etwas wie ein Programm. Kevin oder Ali, Frau Meyer und Franziskus. Gottfried und Gaby, Horst und Hanna, Michi und Manni. Oftmals ver-rückt, wie ein paar Buchstaben zum Lebensthema werden oder was andere daraus machen. Vor- und Familiennamen, Spaß- und Spitznamen können etwas aussagen…

Bröckelnder Putz im ehemaligen Gefängnis „An der Freiheit“ in Herford. Die Uhr läuft noch…

Im Jugendgefängnis nennen sich die Inhaftierten oft mit Nachnamen: „Hey Müller oder hey Schmidt“. Das ist bei unbekannteren Namen nicht so einfach. „Hey Ayad“ geht noch, aber Darwisch oder Abdul-Asali? Man versucht Mitgefangene und Bedienstete manches Mal zu beleidigen oder zu provozieren mit einem Spitznamen: Pepe, Kala, Rotschopf, Kurde oder King-Kong. Ver-rückter Ort Gefängnis.

Da ist beispielsweise Ali. Er wird Lalle genannt, weil er in Rätseln spricht. Bei ihm ist eine hebephrene Schizophrenie diagnostiziert worden. Bei diesem Subtyp der Schizophrenie stehen Veränderungen des Gefühls- und Gemütslebens im Vordergrund. Sein Denken und Verhalten sind desorganisiert und seine Sprache und Reaktionen emotional schwer nachvollziehbar. Er ist auf einer besonderen Abteilung für „nichtkooperative Gefangene“ untergebracht. Kommunizieren kann man nicht so gut mit Ali. Er antwortet mit nicht nachvollziehbaren Sätzen aus einem anderen Zusammenhang. Andere Namen für sein Krankheitsbild sind Hebephrenie und Desorganisierte Schizophrenie. Alles schwierige Namen. Nicht verstehbar ist diese Diagnose für den 20 Jährigen. Die Erkrankung ist nach Hebe benannt, der Göttin der Jugend.

Der Ver-rückte

Die genauen Ursachen für das vorliegende Syndrom sind nicht ganz geklärt. Man vermutet jedoch eine spätpubertäre Dysbalance. Es können sich falsche Synapsen-Verschaltungen ausbilden. Diese kommt vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren vor. Kichern oder unangepasstes Lachen sind Ali´s stete Begleiter. „Der Verrückte“ wird Ali von den Mitgefangenen deshalb genannt. Nur ein Zellennachbar von ihm nimmt ihn so wie er ist. Ali schreibt regelmäßig Anträge und ich hole ihn zum Gespräch in die Kirche. Das läuft alles so weit unproblematisch. Er zeigt sich weder aggressiv noch verletzt er körperlich Andere. Bei Cappuccino mit viel Süßstoff schaut Ali mein Büro an. Er ringt um Worte, findet sie aber nicht so recht. Kein Problem, denke ich, ich bin da und höre zu. Ali schaut von der Tasse auf mein Namensschild.

(Nicht) königlicher Umgang

„Sie haben ja einen fetten Namen!“ kommt da plötzlich klar und deutlich – „King, so würde ich auch gerne heißen…“ sagt er. Der King sein – davon träumen viele Jugendliche im Knast. Was tun sie nicht alles, um andere unter sich zu haben?! Der Name King weckt Begehrlichkeiten, macht sogar Bedienstete manchmal neidisch auf den Seelsorger, der so viele Freiheiten hat und angeblich zu den „Guten“ gehört. Als wir in die Abteilung zurückgehen, begegnet uns ein Bediensteter. Irgendetwas will Ali mit ihm besprechen. Anscheinend geht es um ein Telefonat mit seiner Mutter. Ich kann es nicht verstehen. Am Haftraum angekommen macht er nochmals kehrt und gibt dem Bediensteten auf dem Flur zu verstehen, dass er noch reden will. Ali versucht den Abteilungsbediensteten nach seinem „Ich habe jetzt keine Zeit“ umzustimmen. Der Gefangene geht nicht von alleine in den Haftraum zurück, an dessen Tür ich stehe. Der genervte Bedienstete löst daher Alarm aus und ich bin Zeuge, wie KollegInnen in Uniform in die Abteilung stürmen und Ali in den Haftraum zwingen. „Das war jetzt wirklich nicht notwendig in dieser Art mit dem Gefangenen umzugehen“, sage ich laut der Verantwortlichen von Sicherheit und Ordnung. Würdevoll war diese Reaktion wohl absolut nicht. Diese zuckt nur mit den Schultern: „Der ist eben verrückt…“

Bester Mann

Ein anderer Gefangener mit Namen Alfons sagt, man „bekomme Haftschaden“ im Knast. Stimmt denke ich, manche Vorerkrankungen kommen in der JVA vielleicht erst zutage oder verstärken sich. Der ver-rückte Ort Knast hinterlässt Spuren. Ali wurde entlassen. Ein Jahr später meldet er sich per Telefon. Er bedankt sich überschwänglich für den Cappuccino und dass wir ihn als Seelsorger „immer zum Gespräch geholt haben“. Er bekommt Medikamente und er könne wieder „normal“ sprechen und reagieren. Was auch immer er mit normal oder unnormal meint. „Es war immer so schön im Kirchenbüro“ sagt er. Ali hat sich mittlerweile einen Namen gemacht. Nicht mehr im Drogenmilieu sondern als Produktionshelfer. „Herr King, sie sind der beste Mann“, sagt er zum Schluss und legt auf.

Wohnt nicht in jedem von uns ein King oder eine Queen? Die göttlich-königliche Würde, ausgestattet mit einer unsichtbaren Krone, lässt sich nicht absprechen. Oft werden wir Gefängnisseelsorger in der JVA Herford mit Namen verwechselt. Dann ist plötzlich der evangelische Gefängnisseelsorger mit Namen Thünemann KING und ich als katholischer Gefängnisseelsorger Thünemann. Genau das ist es, was wir versuchen am ver-rückten Ort des Knastes in der Begegnung mit Inhaftierten und Bediensteten zu vermitteln: Dass jeder Mensch KING oder Queen ist. Es ist die Frage, wie ich mit dieser „Macht“ umgehe und wie ich sie entsprechend für mich und andere würdigen kann.

Michael King | Grußwort bei der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge, 25. April 2024, Schmochtitz/Bautzen
Thema: Ver-rückte Welt. Umgang mit psychisch Kranken im Strafvollzug
Titelfoto: „Draufgänger“ zwischen den Welten in der Stadt Oldenburg

 

1 Rückmeldung

  1. Daniela Hirt sagt:

    Ich lese ihren Newsletter immer sehr aufmerksam, doch dieser Newsletter sticht für mich besonders heraus. Ich fand es inspirierend, welche Analogien sie zu ihrem Namen entwickelt haben, wie sie mit den Effekten, die ein Name auslösen kann, jonglieren sehr inspirierend. Mein eigener Nachname ist ja auch (je nach Jahreszeit) sehr populär 😉 Mich hat ihr Beitrag über den Frauenstrafvollzug und über das Buch sehr angesprochen. Ich habe gerade meinen Beitrag für einen Tagungsbeitrag geschrieben und eines meiner Fazite war, dass eine Durchführung und Implementierung eines restorativen Verfahrens in Form eines restorativen Dialoges im Frauengefängnis mehr als überfällig ist! Bisher sind alle Maßnahmen in Männer-, bzw. Jungtäterstrafanstalten durchgeführt worden. Die Anfragen an mich kommen auch ausschließlich nur aus Männergefängnissen. Ich frage mich, weshalb das so ist. Haben sie eine Idee oder sogar noch einen Kontakt zu einem Frauengefängnis, wo ich einmal Kontakt aufnehmen kann? Oder eine Veranstaltung, die sie mir empfehlen können oder mich als Referentin empfehlen können?

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