Als ich vor einigen Jahren mit einem Kollegen darüber sprach, dass Gefängnisse als solche bereits ein Verstoß gegen die Menschenwürde (und damit eigentlich gegen die Verfassung gemäß GG Art 1, Abs. 1 und Art. 2, Abs. 1) seien, reagierte der Kollege irritiert. Ihnen würde die Freiheit entzogen, diese aber gehöre grundlegend zum christlichen Menschenbild. Es mag überspitzt formuliert gewesen sein, macht aber auf eine Seite des Strafvollzugs aufmerksam, die nicht ausgeblendet werden kann – sowohl unter ethischer als auch theologischer Perspektive. Beides kann Seelsorgende nicht unberührt lassen. Hinzu kommt die Frage nach der inneren Logik eines Vollzuges, der zu einem Leben in Freiheit befähigen will (StGB [Bund] § 3, Abs. 3), wenn er gleichzeitig diese Freiheit entzieht – eine paradoxe Situation, in der Gottes befreiendes Handeln bezeugt werden soll.
Mit der vorliegenden Dissertation liegt ein Versuch vor, diese Paradoxie insoweit zu überwinden, als eine christliche Seelsorge entworfen wird, die Inhaftierten Freiräume bietet, Gottes befreiendes Handeln zu erfahren. Frank Stüfen, langjähriger Gefängnisseelsorger und Leiter des Studiengangs „Seelsorge im Straf- und Massnahmenvollzug“ an der Universität Bern, weiß, wovon er spricht. Er weiß auch, dass vom Gefängnis, als dem System, innerhalb dessen Gefängnisseelsorge angeboten wird, mit dem Begriff „totale Institution“ nicht differenziert genug beschrieben wird und schlägt deshalb gut begründet den Begriff „paradoxe Institution“ vor (137-166). Man mag darüber streiten – sicher ist aber, dass sich der Vollzug seit Erving Goffmans Analysen aus den 1960er Jahren seit den 1970er Jahren stark veränderte. Es sind die vollzuglichen Veränderungen, die den Rahmen zu Stüfens Arbeit bilden.
Sein eigenes Konzept gelingt Stüfen im Rückgriff auf Karl Barths (und Calvins) Rechtfertigungs- und Heiligungslehre, womit man ins Zentrum evangelisch reformierter Theologie geführt wird, was für katholische GefängnisseelsorgerInnen teilweise mühsam zu lesen ist, weil neu und ungewohnt, aber durchaus gewinnbringend. Nicht zuletzt deshalb wäre Stüfens am Ende ausgesprochener Wunsch, „in der Forschung ein Augenmerk darauf zu richten, wie die vorliegenden Überlegungen aus reformierter Sicht ökumenisch, aber auch interreligiös diskutiert werden können“ (361), es wert aufgegriffen zu werden. – Ohne die Arbeit Stüfens an dieser Stelle umfassend würden zu können, sei auf einige grundlegende Gedanken hingewiesen.
Klassische Seelsorgefelder integriert
Schon der umfassende Überblick über die wichtigste Veröffentlichungen zur Gefägnisseelsorge der vergangenen 40 Jahre macht diese Arbeit schon lesenswert. Darin spiegeln sich die bereits angesprochenen vollzuglichen Veränderungen und es werden unterschiedliche Ansätze erkennbar (historische, psychoanaltische, psychotherapeutische, missiologische) (31-47). Die Implementierung des Behandlungsvollzuges innerhalb der Strafvollzugsanstalten und die damit verbundene Okkupierung klassischer Seelsorgefelder – wie auch außerhalb der Gefängnisse durch zunehmende soziale und psychologische Beratungsangebote – zwang die Seelsorgenden zu einer Abgrenzung gegenüber sozialen und therapeutischen Angeboten und damit zu einem neuen Selbstverständnis und zu einer Neuprofilierung ihrer Arbeit (bes. 14-21). Stüfen referiert ausführlich und kenntnisreich die einschlägigen Veröffentlichungen und kommt an vielen Stellen zu verschiedenen Aspekten immer wieder auf diese zurück, so dass die LeserInnnen nicht nur Stüfens eigene Argumentationslinien nachvollziehen können, sondern einen sehr guten Überblick über den Forschungsstand der vergangenen 40 Jahre gewinnen können.
Befreiungsorientierter Seelsorgeansatz
Man spürt durch und durch, dass es Stüfens Anliegen ist Seelsorge neu und zwar theologisch zu profilieren, ohne die Verdienste anderer Ansätze zu schmälern. Mit seinem befreiungsorientierten Seelsorgeansatz legt er ein theologisch durchdachtes und gelungenes Konzept für eine zukunftsweisende Gefängnisseelsorge vor, die sich als anschlussfähig an die Entwicklung im Strafvollzug bezeichnen darf. Für Stüfen ist dabei nicht allein die Entwicklung weg vom Straf- und Verwahrvollzug entscheidend, sondern v.a. der theologische Perspektivenwechsel, den Karl Barth in den 1950er Jahren vollzog und mit dem er sich von einer „Ordnungstheologie“ verabschiedete. Barth öffnete den Weg zu einem neuen Verständnis von Strafe als „Fürsorge“. Auch darauf musste die Gefängnisseelsorge reagieren.
Kritischer Blick auf Strafen
Hier setzt Stüfen an und entwickelt ein Strafverständnis, das auf Versöhnung zielt. Denn Seelsorge kann nicht Strafe im Blick haben, sondern allein Versöhnung. Darauf zielten schon Barths (rechtfertigungs-) theologischen Überlegungen, wonach dies „die gerechte Strafe sei, welche die umfassende Fürsorge für den Übeltäter und die Gesellschaft bringe“ (221). Doch es sind nicht diese Gedanken allein, die Stüfen bewegen, Barths Strafverständnis weiterzuentwickeln und einen neuen Ansatz für die Gefängnisseelsorge zu entwickeln. Ebenso sei zu bedenken, ob Strafen überhaupt das erreichen, was mit ihnen erzielt wird – will man nicht einem bloßen Rache- und Vergeltungsdenken verhaftet bleiben. Eine abschreckende Wirkung haben sie zudem auch nicht – wie etwa ein Blick in die USA mit der Todesstrafe als Höchststrafe zeigt. In der Pädagogik hat man sich längst von einem solchen Denken verabschiedet. Denn Strafen können kontraproduktiv sein, wird doch erfahren, dass der Stärkere das Recht auf seiner Seite hat. Nicht umsonst wird Strafe auch im Blick auf den Strafvollzug kritisch hinterfragt und abgelehnt – und das schon 1819 mit Carl Mittermeier. Denn was fehlt ist so etwas wie ein innerer Zusammenhang: lässt sich etwa Totschlag mit 10 oder mehr Jahre Haft verrechnen? Bei seinem Versuch Strafem kritisch zu hinterfragen und im Rückgriff auf Paul Ricœur zu entmythologisieren schließt er sich der Rechtsphilosophien Jennifer Llewelyns an, für die Recht letztlich ein Beziehungsgeschehen und Rechtsbruch ein Beziehungsbruch darstellt (242-244).
Freiräume eröffnen
Hier zeichnet sich bereits ab, dass es nicht um Strafe um der Bestrafung willen gehen kann, sondern dass zerbrochene Beziehungen wiederhergestellt werden müssen. Dieser relationale Ansatz von Recht und Wiederherstellung von Recht führt folgerichtig zu einer „Restaurative Justice“ (338-348) und bei Stüfen schließlich zu einem Verständnis von Gefängnisseelsorge als einem Beziehungsgeschehen (244-247): Seelsorge will Freiheitsräume öffnen (247-255). Diese Freiheitsräume versteht Stüfen als „Räume der Befreiung“ (283), die insbesondere durch die Schweigepflicht geschützt seien. „Diese Räume sind […] von der paradoxen Institution geprägt. In ihnen können [aber] Prozesse beginnen, die mehr Freiheit und Verantwortung und damit Resozialisierungsprozesse ermöglichen. Es kann angstfrei das ausgesprochen werden, was unfrei macht.“ (27)
Mit seinem befreiungsorientierten Entwurf kann Stüfen an damalige Ansätze anknüpfen (268-283) und diese weiter entwickeln. Erstaunlich ist es, welche Fülle an Literatur Stüfen dabei sichtete, auswertete und – selbst dort, wo er sich kritisch oder distanziert äußert – diese für seine Arbeit fruchtbar macht. Nach meinem Kenntnisstand übersah er lediglich die interessante Dissertation Christine Drexlers „Im Gefängnis befreiend von Gott sprechen?“, mit der diese in Auseinandersetzung mit Foucault 2006 einen bemerkenswerten befreiungstheologischen Ansatz für Gefängnisseelsorge vorlegte. Doch das tut der Arbeit insgesamt keinen Abbruch. Raum erhält in seiner Arbeit aber Michelle Becka, die 2016 ihre Habilitation „Strafe und Resozialisierung“, vorlegte, kein gefängnisseelsorgerliches Konzept, sondern eher rechtsphilosphische Überlegungen zu „Freiheitsbefähigung unter Haftbedingnungen“, die aber für alle Gefängnisseelsorgenden unverzichtbar sein dürften.
Stüfen versucht eine Klärung des Freiheitsbegriffs, der „in der Gefängnisseelsorge [bisher] ungeklärt geblieben“ zu sein scheint (355), in dem er sich mit juristischen, psychologischen und schließlich auch neurobiologischen Antworten auseinandersetzt. Er diskutiert Bedenken im Blick auf die menschliche (Willens-) Freiheit, wie sie Psychologen oder Neurobiologen formulieren. Letztere (zumindest teilweise) negieren sie sogar (51-81). Dem Freiheitsverständnis von Karl Barths wird in diesem Kontext besonders viel Platz eingeräumt (73-81): „Es ist die ihm eigene Freiheit, in der er auch dem Menschen Freiheit schenkt […] [Sie ist] keine abstrakte Freiheit.“ [zit. 74] „Freiheit konkretisiere sich“, so Stüfen, „in der Gemeinschaft. Gott erwähle den Menschen und binde ihn an sich. […] Aus dieser Erwählung ergebe sich die Freiheit des Menschen.“ (74f)
Grenzen von Behandlung
Wenn er sich in diesem Kontext kritisch mit dem Behandlungsvollzug, der zu einem Leben in Freiheit befähigen soll, auseinandersetzt (83-179), dann deshalb, weil es ihm letztlich um die menschliche Freiheit, die Autonomie des Menschen – auch der Strafgefangenen – , um die menschliche Freiheit geht. Kritisch sieht er den Behandlungsvollzug nicht deshalb, weil er das Anliegen als solches problematisiert, sondern deshalb, weil dieser in Gefahr ist, Inhaftierte vorschnell zu verobjektivieren, zu pathologisieren, zu dissozialen Persönlichkeiten zu degradieren, sie damit konsequenterweise nicht wirklich ernst zu nehmen und damit schließlich deren Würde antasten. Davor warnte übrigens schon Viktor Frankl. Seelsorge dagegen will Inhaftierte weder einnorden noch umcodieren. Das alles mag manchen LerserInnen überspitzt vorkommen, ist hier aber gut begründet und nachvollziehbar, und es zeigt sich, wo die Grenzen von Behandlung liegen müssen, will man ein christliches Menschenbild zugrunde legen. Seelsorge ist bemüht das Gute im gerechtfertigten Menschen („simul iustus et peccator“) zu finden und zu fördern, diesen auf seinem Weg zu begleiten und Autonomie zu fördern.
Stüfen warnt ausdrücklich vor der Gefahr „kommunikativer Schieflagen“ (177). „Prozessorientierte begleitend-befreiende Seelsorge achtet vor allem darauf, wie sich Macht in der Seelsorge zeigen könnte: in der Kommunikation, im Beziehungsgefälle zwischen Seelsorgenden und Gefangenen oder im Bild vom kranken Straftäter.“ (293) Von „befreiender Seelsorge“ als „Anstiftung zur Selbstsorge“ sprach schon 2005 Hermann Steinkamp in einem Beitrag zur Gefängnisseelsorge und warnte vor einer „Pastoralmacht“, auf die schon Michel Foucault aufmerksam machte. Wenn man aktuell einen Blick auf die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg in Deutschland wirft, könnte das Thema kaum aktueller sein.
Man spürt bei der Lektüre nicht nur ein umfassendes Wissen um gefängnisseelsorgerischer Ansätze, wie sie in den vergangenen Jahren vorgelegt wurde. Man spürt vor allem auch ein Wissen sowohl um vollzugliche Vorgänge, wie sie sicher nicht nur für die Schweiz gelten, als auch umpsychologische Grundlagen, die für die Seelsorge unverzichtbar sind. Stüfens Verdienst dürfte es aber vor allem sein, seinen Gedankengang konsequent theologisch zu konzipieren, indem er sich an den Begriffen von „Rechtfertigung“ und „Heiligung“ (auch etwas ungewohnt) entlang von alten ordnungstheologischen Vorstellungen verabschiedet und einer befreienden Seelsorge den Weg öffnet.
Dr. Simeon Reininger
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