Dr.in Christine Drexler ist katholische Theologin in Österreich. Im Jahr 2006 hat sie ihre Promotion zum Thema „Im Gefängnis befreiend von Gott sprechen? Merkmale und Mechanismen eines disziplinären Systems als theologische Herausforderung“ verfasst. Der Schweizer Verlag für Gefängnisseelsorge wird die Studie neu in einem Buch veröffentlichen. Der Verleger, Frank Stüfen, spricht mit Drexler vorab in einem Interview. Dabei geht sie in Auszügen auf das Heilige Jahr 2025 ein, das Papst Franziskus ausgerufen hat.
[…] Es ist ein wenig wie mit dem Zöllner Zachäus, den Jesus vom Baum herunterruft, um bei ihm einzukehren: Auch wenn man den Berufsstand der Zöllner und Schuldeneintreiber brauchte, so waren seine Vertreter doch gesellschaftlich geächtet. An diese Situation gefesselt, findet Zachäus eine Möglichkeit, diesem Wanderprediger Jesus, von dem er gehört hatte, nahe zu kommen, ohne aufzufallen. Durch Jesus aber wird Zachäus zu einem Meilenstein: Ohne dass von ihm verlangt worden wäre, sich zu bessern entscheidet sich Zachäus aufgrund der Begegnung mit Jesus, seinen Reichtum zu teilen, der Welt etwas zurückzugeben, von nun an Jesus an für Gerechtigkeit zu sorgen. Und hier treffen sich Lukas 19 und meine Untersuchung mit einem jüngst veröffentlichten Text von Papst Franziskus: der Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr.
Jubeljahr ist überzeugend, zeitgemäß und aufrüttelnd
Anlässlich des Heiligen Jahres der katholischen Kirche hat Papst Franziskus eine „Heilige Pforte“ an Weihnachten in einem Gefängnis in Rom geöffnet. Das Überschreiten dieser Tür symbolisiere den Weg zu Hoffnung und Vergebung, sagte der 88-jährige Franziskus. Zu den Inhaftierten der Haftanstalt meint er: „Verliert nicht die Hoffnung, das ist die Botschaft, die ich euch geben möchte.“ Seit dem Jahr 1300 findet das Jubeljahr regelmäßig im Abstand von einem Vierteljahrhundert statt, bei dem traditionell der Fokus auf dem Schuld-Erlass liegt. Die Heilige Pforte im Petersdom wird für die Dauer von einem Jahr geöffnet und wer durch sie hindurchschreitet, erlangt einen umfassenden Ablass. So viel dazu. Wer wie ich zunächst den Eindruck nicht loswird, dass dieses Szenario völlig aus der Zeit gefallen ist, wird rasch eines Besseren belehrt: Die Begeisterung unseres Papstes für dieses Heilige Jahr ist geradezu ansteckend! In der Bulle findet er wie selbstverständlich einen Weg der Deutung, der überzeugend, zeitgemäß und aufrüttelt ist: Er verknüpft das Heilige Jahr mit dem Aspekt der Hoffnung und weist in mehreren Annäherungen darauf hin, wie sehr unsere Welt und wir Menschen angesichts aktueller kürzlich vergangener Krisen und Katastrophen es nötig haben, an der Hoffnung festzuhalten und dass wir aus dem christlichen Glauben heraus die Hoffnung Ausdruck geben können und sollen: Wir vertrauen auf Gott, der in Jesus Christus uns gleich geworden ist, das Erleiden von Unrecht eingeschlossen, und der den Weg des Neubeginns vorangegangen ist – durch die Auferweckung, sprich: die Gnade Gottes.
Forderungen und Aufforderungen
Papst Franziskus bleibt dabei aber nicht abstrakt bei theologisch wohlklingenden Worten und Konstrukten. Nein, es geht um sehr konkrete Forderungen und Aufforderungen: Frieden zu stiften, wo immer es nötig und möglich ist; die Freude am Leben zu stärken, auch wenn wir in noch nicht gekannten Unsicherheiten zurechtkommen müssen; die Güter der Erde gerecht zu verteilen und den armen Ländern doch endlich die Schulden zu erlassen, die sie offensichtlich niemals mehr zurückzahlen können; die Armen, denen die Lebensgrundlage fehlt und die nicht einmal das Nötigste zum Leben haben, endlich aus ihrer Not zu befreien; den Migrantinnen Gastfreundschaft zu gewähren; den älteren Menschen in Würde zu begegnen und jungen Menschen Perspektiven zu bieten, damit sie ihr Potenzial in die Welt einbringen können. Aus all dem spricht die Schule der Befreiungstheologie, durch die Papst Franziskus ging und die ihn dazu veranlasst, eine der Heiligen Pforten in einem italienischen Gefängnis zu öffnen. Auch dies keine nur symbolische Handlung, sondern ein Akt, der die Regierenden zum Handeln respektive zur Gewährung von großzügiger Amnestie auffordert: Gefangene zu befreien, ihnen eine neue Chance zu geben, sich in der Gesellschaft einzubringen, Vergebung zu erlangen und Unrecht wiedergutzumachen.
Das Jahr der Hoffnung, wie es Papst Franziskus anstrebt, ist kein Motto-Jahr, das einem schönen Thema gewidmet ist, sondern bezeichnet den Aufbruch aus vielerlei weltweiten Krisen. Hoffnung ist der Gegenbegriff zu Verzweiflung, Resignation, dem Einfach-Dreinschlagen, weil alles keinen Sinn mehr hat, dem Sich-Abwenden, weil die Probleme zu groß sind. Hoffnung erwächst aus dem Widerstand gegen bedrückende Zustände. Hoffnung braucht Mut, Fantasie, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen, damit die (scheinbare) Plausibilität des Faktischen durchbrochen werden kann auf eine neue Wirklichkeit hin -weil alles auch ganz anders sein könnte. Und Gott geht mit auf diesem Weg – menschenfreundlich, fehlerfreundlich und geduldig.
Aufruf, die Welt mitzugestalten
Auch ich finde die Forderung von Papst Franziskus sehr gewagt. Doch wenn man versucht, sie im Kontext seiner Argumentation zu erfassen, zeigt sich ein interessantes Bild: Hierbei geht es nicht in naiver Weise darum, dass Schwerverbrecher plötzlich frei herumlaufen oder dass Resozialisierte möglichst unauffällig bleiben (also nicht mehr straffällig werden und sich in die Gesellschaft pflegeleicht einfügen), sondern es geht viel weiter: Franziskus ruft UNS ALLE auf, unsere Welt mitzugestalten und für die Menschen, die Umwelt, die Gestrandeten etc. Gutes zu bewirken. Es kommt auf uns alle an, damit die Welt angesichts und trotz der vielfältigen Krisen und Katastrophen in eine lebenswerte, friedvolle und glückliche Zukunft gehen kann. Es braucht uns alle, und zwar wirklich alle! Auch jene, die im Gefängnis sind, weil sie im Leben gescheitert sind und Unrecht begangen haben! Auch sie haben einen Auftrag in dieser Welt, auf den die Welt nicht verzichten kann – damit sind sie wertvoll als Kinder des einen Gottes, ganz im Sinne von Lukas 19,9: „Da sagte Jesus zu ihm [i.e. Zachäus]: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist“
Heil von Menschen im Gefängnis
Das finde ich radikal befreiungstheologisch und es beantwortet eine meiner Fragen in der Arbeit: Können wir sagen, dass das Heil auch von jenen kommt, die in den Gefängnissen am Rande unserer Gesellschaft stehen, die vom gesellschaftlichen Leben ausgesperrt sind, indem sie eingesperrt sind? Papst Franziskus beantwortet das mit einem klaren Ja! Somit stellt sich nicht die Frage, ob die reale Befreiung möglich ist, sondern dass sie nötig ist, weil wir alle gefragt sind, wenn es um den Aufbau des Reiches Gottes geht. Geht vielleicht gerade von jenen, die wissen, was es heißt, gescheitert zu sein und wieder aufzustehen, ein Beitrag zur Bewältigung aktueller Herausforderungen aus? So könnte man die Frage auch formulieren. […] Papst Franziskus nimmt uns alle gemeinsam in die Pflicht, an der Zukunft der Welt mitzugestalten. Das alles kann uns nur miteinander und niemals gegeneinander gelingen. So können und sollten wir auch innerhalb der Kirche auf das Gemeinsame setzen und die Gräben zwischen Priester- und Laien, zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Konservativen und Progressiven etc. überwinden. Gemeinsam in der Verschiedenheit unserer Möglichkeiten können wir einen Weg in die Zukunft bahnen – auch wenn Vielfalt durchaus anstrengend sein kann und viele Fragen weiterhin offen sind, wie sich auch an den Ergebnissen der Weltsynode etwas bitter zeigt, wenn wichtige Themen erneut vertagt werden.
Befreiung aus der Entfremdung
Was schließlich die Theologie der Befreiung anbelangt, so halte ich es nach wie vor für einen höchst wertvollen Impuls, dass wir nicht aufhören, die Befreiung aus der Entfremdung (wie immer diese gegenwärtig auch aussieht) hin zur Gestaltungsfreiheit in Anspruch zu nehmen – im Engagement für diejenigen, die missachtet werden, keine Stimme haben oder von der Gesellschaft aufgegeben wurden. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Theologie nicht beim Reden stehen bleiben kann, wie Hans-Joachim Sander treffend angemerkt hat, sondern dass es letztlich um Theologie-Tun geht. Nur in unserem Handeln kann Gottes Zuwendung zur Welt deutlich werden. Allerdings – und auch darauf weist Sander hin – wird jedes Engagement verhärmt und verbittert, wenn nicht auch Raum und Zeit ist für ausgelassene Freude und gemeinsames Feiern. Ich habe das große Glück, dass ich im Rahmen meiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit als Fachreferentin für Liturgie und Seelsorgeraum-Entwicklung in der Diözese Innsbruck genau daran mitarbeiten darf, wenn ich u.a. LeiterInnen für sonntägliche Wortgottesdienste ausbilde: Es bereitet mir große Freude, Menschen zu ermutigen und darauf vorzubereiten, dass sie in ihrer Kirchengemeinde gemeinsam den Sonntag – die lebendige Erinnerung an den Auferstandenen – auf vielfältige Weise feiern können, wo jeder und jede etwas beiträgt und Leitung als Dienst an der Gemeinschaft aufgefasst wird.
Dr.in Christine Drexler | Interview-Auszüge aus der Erstveröffentlichung in: Seelsorge & Strafvollzug, Heft Nr. 13, S. 63-66.
2025 erscheint im Verlag für Gefängnisseelsorge die Doktorarbeit „Im Gefängnis befreiend von Gott sprechen?“
Mit einem Team von KollegInnen in der Diözese Innsbruck ist eine Plattform eingerichtet, um den Austausch über die Aussagen von Papst Franziskus zum Heiligen Jahr 2025 zu veröffentlichen. Dort können Beiträge zu den einzelnen Absätzen aus der Verkündigungsbulle „Spes non confundit“ oder allgemein gehaltene Stellungnahmen zum Jahr der Hoffnung 2025 zugesandt werden. Es geht uns darum, dass dieses Papier, das sehr viele wichtige Anregungen und Aufforderungen enthält, nicht in den Schubladen verschwindet, sondern Wirksamkeit entfaltet, sodass das Jubeljahr den Namen Hoffnung verdient.
Beiträge zu „Spes non confundit“
2 Rückmeldungen
Zunächst möchte ich allen noch gute Wünsche für das neue Jahr schicken: Möge es unter Gottes Segen stehen, möge Gott uns Liebe, Fantasie, Geduld und Kraft für die Gefangenen schenken, möge er unsere Anstrengungen vervielfältigen und unserem Tun reichlich Früchte gewähren. Möge dieses Jubiläumsjahr für viele Gefangene ein Neubeginn für eine bessere Zukunft sein und die Hoffnung von uns allen stärken und vermehren!
Dieses Jahr 2025 steht unter dem Zeichen der Hoffnung. Sie soll das Leben der Gläubigen neu ausrichten. Sie ist aber auch wie ein neuer Atem für das Leben vieler Gefangener in der ganzen Welt. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte hat ein Papst eine zusätzliche Heilige Pforte in einem Gefängnis eröffnet. Auf diese Weise hat er Millionen von Gefangenen aus einem Schattendasein ins Licht des Jubiläums gebracht. Dies ist eine große Chance nicht nur für die Gefangenen, sondern auch für die Kirche, um die Gefangenen als ihre Kinder, als geliebte Schwestern und Brüder des Herrn Jesus wieder zu entdecken. Die Zuneigung von Papst Franziskus den Gefangenen gegenüber wird selbst in Ländern jenseits der Alpen wahrgenommen.
In Deutschland wurde in der Berichterstattung zum Beispiel darauf hingewiesen, dass der Papst bei der Weihnachtsmesse im Vatikan müde und krank erschien, bei der Eröffnung der Heilligen Pforte im Gefängnis Rebibbia hingegen schienen ihm die Gefangenen neue Kraft verliehen zu haben und man konnte spüren, dass er sich unter ihnen sehr wohl fühlte. Ich danke Papst Franziskus für seine unermüdliche Liebe zu den Gefangenen und empfinde sie als Herausforderung, „den Ball aufzunehmen“, den er uns zuspielt, um dieses Jahr nicht vorbeiziehen zu lassen, ohne mit den Gefangenen und für sie die Hoffnung neu erblühen zu lassen.
Die Katholische Kirche will ihre eigenen Fenster und Tore weit öffnen, damit frische Luft in die alten Hallen des Vatikans und weltweit einströmen? Ich erlebe den jetzigen Papst weder als Befreiungstheologen noch als Reformator. Er mag leutselig sein, offen und manches Mal menschennah. Vielmehr sehe ich einen „Befreiungspragmatiker“, wie ihn Michael Huhn (Adveniat) bezeichnet. Mag sein, dass Papst Franziskus der argentinischen „Theologie des Volkes“ verbunden ist. In seinen Enzykliken „Laudato si‘ und „Fratelli tutti“ praktiziert er einen einfachen Lebensstil und setzt Zeichen der Nähe zu den Armen.
Die Herausforderungen der Katholischen Kirche seien groß wird immer wieder betont. Der Papst kann daran auch nichts ändern. Doch wie lange soll es noch dauern, bis die überwiegend alten Männer in kirchlichen Leitungspositionen die verkrusteten Positionen und Lehren aufbrechen? Ich habe keine Hoffnung, dass sich dahingehend etwas ändert. Die Übergriffe sexuelle Gewalt katholischer Geistlicher, die Sexualmoral, die Ämterfrage, die „Zulassung“ von Frauen zu Diakonin und Priesterin widersprechen einem Jubeljahr. Es gibt nichts zu jubeln. Ich würde es gerne, wenn sich nur eines der Reformschritte bewahrheiten würde. Der Priestermangel macht es möglich, dass pastorale MitarbeiterInnen im Bistum Essen und der Diözese Rottenburg-Stuttgart taufen dürfen. Ansonsten „dürfen“ sie die Lesung und die Fürbitten in der Eucharistiefeier vortragen. Die zaghaften Neuerungen einer Weltsynode und des deutschen Synodalen Weges haben bruchstückhaft versucht neue Tapeten auf alten Putz zu kleben. Das Heilen entgegengesetzter Meinungen gelingt so lange nicht, wie die Menschen nicht gleichberechtigt sind. Sie sind es nicht, solange zwischen Klerikern und „Laien“ und deren Machtbefugnisse einteilt und unterschieden wird.
Leider ist es eine Machtfrage, wer was zu sagen hat, wer die Wahrheit verkörpert. Katholisch bedeutet allumfassend und weltweit. Es gibt bereits Facetten dieses Katholisch-seins. Von erzkonservativ bis progressiv. Entweder schotten sich die Traditionalisten und Fundamentalisten ab oder die Menschen verlassen die Kirche in Scharen. Letzteres ist es so – zumindest in Europa. Da können Massen pilgernder Menschen in Rom nicht darüber hinwegtäuschen. Aus diesen Gründen lässt sich eher von einer Befremdung als von einer Befreiung reden. Einen „Ablass“ und den Segen dieser Katholischen Kirche zu bekommen, die die Menschenrechts-Charta nicht unterschreibt, interessiert mich nicht mehr. Man kann davon ausgehen, dass die Mehrheit von ChristInnen das Angebot eines „Ablasses“ und das Durchschreiten einer heiligen Pforte nicht in Anspruch nehmen wird. Klaus Scheunig, Krankenhausseelsorger im rheinland-pfälzischen Pirmasens, trifft es auf den Punkt: