„Deine Vision wird nur dann klar, wenn Du in Dein eigenes Herz schaust. Wer nach außen blickt, träumt; wer nach innen schaut, erwacht“, so sagt der analytische Psychologe und Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961). Unser Blick hinaus in die Welt ist geleitet von dem, wie wir diese Welt gerne hätten. Mal können wir in ihr träumerisch versinken, mal erscheint sie uns so feindlich, dass wir ihr am liebsten entfliehen würde.
Wenn ich sehe, wieviel Gier um Macht und Einfluss da ist, wenn ich die Gewalt sehe und die Kriege, all die Unversöhnlichkeit, dann möchte ich eine andere Welt. Eine Welt, in der Frieden ist, Verbundenheit miteinander über die Grenzen von Nationalität, Religion und Geschlecht hinaus. Auch das: ein Traum! Und wenn ich die Kirche sehe mit den Strukturen, die einen Missbrauch von Macht begünstigen, und einen vielfach immer noch fehlenden Willen, dies zu ändern, dann wünsche ich mir eine andere Kirche. Eine Kirche, in der alle willkommen sind ohne gegenseitige Ausgrenzung, in der Jesu Botschaft gelebt wird mit der Ermutigung, Mensch zu sein, füreinander und für diese Welt. Was für ein Traum! Doch die Wirklichkeit der Welt, der Politik, der Kirche ist eine andere als die gewünschte, steinig ist sie und voller Widerstände, in ihr scheint jeder Schritt nach vorn gefolgt von zwei Schritten zurück.
Erwachen heißt erkennen
Das Anschauen der Wirklichkeit durch die Brille der eigenen Ideale ist wie ein sich wegträumen in eine fiktive Welt. Hart kann dann das Aufstoßen sein im tatsächlichen Leben. Es kann in einen Zynismus führen oder auch in ein Gefühl der Hilflosigkeit, allein doch nichts tun zu können angesichts so vieler Probleme. Dann trauen wir der eigenen Vision von einer besseren Welt nicht mehr, nicht, weil die Welt so schlecht ist, sondern weil wir uns verschlossen haben. Wer aber nach innen schaut, erwacht, sagt Carl Gustav Jung. Erwachen heißt erkennen: da ist ja in mir selbst, was auch draußen in der Welt ist, und zu Leid führt: die Gier, der Neid, das Verurteilen, die Beschämung. Ich erkenne, wie eines zum anderen führt: aus früh erfahrenen Beschämungen und Ausgrenzungen können Verurteilung, Hass und Gewalt werden. Erkennend die Verbundenheit von allem in mir selbst eröffnet sich aber auch ein Weg, Leidvolles zu überwinden. Es ist der Weg des Mitgefühls. Alles Große beginnt mit einem kleinen Schritt, jede Veränderung beginnt im eigenen Herzen.
Mit welcher Einstellung unterwegs
Religiösen Führern, die die Menschen aufteilen in rein und unrein, um sie kontrollieren zu können, hat Jesus deutlich gesagt, dass den Menschen nicht etwas von außen unrein macht, sondern dass das Unreine im eigenen Herzen beginnt. In ihrer Ausübung von Macht und Herrschaft über andere sollten sie zunächst in sich selbst schauen, was da zu tun wäre. In diesem Sinne verstehe ich auch die Aussage Jesu im Lukasevangelium: „Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen, und wer bei den kleinsten Dingen Unrecht tut, der tut es auch bei den großen“. Im alltäglichen Kleinkram des Lebens, in der Art und Weise, wie wir unterwegs sind, wie wir anderen Menschen begegnen, wie wir unseren Beruf leben, oder auch nur wie wir den Müll entsorgen, lässt sich ablesen, mit welcher Einstellung wir unterwegs sind. Beginnen wir mit heilsamen Veränderungen in diesen alltäglichen Situationen, so schaffen wir eine neue Wirklichkeit mitten in dieser Welt. Nicht die Empörung über die Welt, die Politik und die Kirche hilft weiter, nur ein erster echter Schritt, beginnend mit mir selbst. Dann müssen wir noch nicht mal warten, bis endlich irgendjemand was tut, wir können gleich beginnen. Und nicht zuletzt lässt uns unser Glaube an Gott sagen: diese Welt ist nicht zu retten durch keinen von uns, sie ist nur in Liebe zu verwandeln mit der kleinen Kraft, die uns jeweils geschenkt ist. Den Rest dürfen wir Gott zutrauen.
Christoph Kunz | Lukas 16, 10–13
Titelbild: Abriss des um 2000 geschlossenen Gefängnisses am Amtsgericht Herford