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In Sicherungsverwahrung sterben. Haft ohne Horizont

24. Juni 2021

Die Realität des Vollzugs der Sicherungsverwahrung in Deutschland 10 Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011.

Im Jahr 2020 hat der Gefängnisseelsorger Adrian Tillmanns in der SV in Werl für vier Untergebrachte in der Sicherungsverwahrung einen Trauergottesdienst gehalten. Allen vier war gemein, dass jeweils eine längere Erkrankung vorausging und sie eines natürlichen Todes gestorben sind. Es war also in gewisser Weise absehbar – für Bedienstete und Mituntergebrachte. Natürlich wurden die Trauergottesdienste nicht in gleicher Anzahl besucht. Man unterscheidet doch recht klar, wie einer in seinem sozialen Umfeld wirkte. Der größte Besuch war bei einem 75 Jährigen, der anstaltsweit sehr bekannt war. 

In der Ansprache nahm der Gefängnisseelsorger auf, was die allermeisten Gottesdienstbesucher dachten: Warum muss ein Mensch 6 Tage vor seinem 73ten Geburtstag noch die SV antreten? Und warum hätte es trotz fortgeschrittener Krebserkrankung noch eines Gutachtens bedurft, um ihn entlassen zu können? Diese Anfragen stießen durchaus auf ein geteiltes Echo: Viel Zustimmung der Untergebrachten und wenig Zustimmung auf Seiten der Leitung. Aus gefängnisseelsorgerlicher Sicht ist nichts anderes erfolgt, was auch außerhalb der Mauern Kolleg*innen aus seelsorgerlichen Gründen tun würden: Die Stimmung der Trauernden aufzunehmen. Es wird also bisweilen schon schwierig, die situationsangemessenen Fragen zu stellen.

Beim Durchblick durch die Akte angesichts der Vorbereitung auf den Trauergottesdienst ist ebenfalls klar geworden: Er gehörte zu der Gruppe der Drogendealer, bei denen es eigentlich einer gerichtlich festgestellte Größenordnung der gehandelten Mengen bedarf, um die SV auszusprechen. Diese Mengen waren bei seiner letzten Verurteilung eindeutig nicht nachgewiesen. Und all diese Faktoren: hohes Alter, lange und schwere Erkrankung, sowie eigentlich nicht ausreichendes Anlassdelikt und dennoch kein Verzicht auf ein Prognosegutachten zur fortgesetzten Gefährlichkeit haben bei vielen Mituntergebrachten Empörung und potenziertes Ohnmachtserleben ausgelöst. Bisweilen wird dieses Erleben durch abfällige Bemerkungen von Seiten des Personals noch verstärkt. Eine Abteilungsleiterin kommentierte des Tod eines anderen Verwahrten mit dem Satz: „Um den ist es nicht schade!“ Diese und ähnliche Äußerungen schließen unmittelbar an den vorigen Abschnitt an, steigern die ausgedrückte Inhumanität und berauben Menschen final jede Würde.

Gegen die Menschenwürde spricht eigentlich bereits – und ich zitiere wörtlich einen wegweisenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – , „dass ein menschenwürdiger Vollzug des Lebenslangen Freiheitsstrafe (und mindestens das ist eine unbegrenzte SV auch) nur dann sichergestellt ist, wenn der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können; denn der Kern der Menschenwürde (GG Art.1) wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wieder zu erlangen, aufgeben muss.“ M.E. ist in diesem Fall des 75-jährigen diametral widersprochen worden, als man ihn kurz vor seinem 73ten Geburtstag die SV antreten ließ.

Lebenszeit der Untergebrachten

Solche, wie eben beschriebene Fälle, lösen in der Stimmung unter den Untergebrachten etwas aus. In diesem letzten Jahr waren es vier Verstorbene bei nachfolgend nur einer Entlassung. Es wird noch einmal zu bedenken sein. Grundsätzlich gibt es schon per se den Eindruck bei vielen Untergebrachten, dass man mit der Haftdauer und den Lebensjahren sehr großzügig umgeht und auf Zeit spielt. Das beginnt bereits in der Zeit der Strafhaft. Eigentlich sollte dort bereits alles versucht werden, um den Antritt der SV zu vermeiden. Auch dies eine Forderung aus dem Urteil von Mai 2011. Die Realität in Werl ist eine andere. Bis dato – in immerhin bereits 8 Jahren einer speziellen Abteilung für sog. Anschluss-SVer – ist es nur zwei Menschen gelungen, die SV nicht anzutreten, ein Mensch gelangte in den Offenen Vollzug, einem gelang die Entlassung kurz nach Antritt der SV – alle anderen traten an. Einige waren in eine SoThA überstellt worden, aber auch sie landeten letztendlich in der SV, selbst wenn sie schon den Status der selbständigen Lockerung erreicht hatten. Hier wird eindeutig dem Anspruch des BVerfG nicht Rechnung getragen.

Das heißt, nahezu die Hälfte der Untergebrachten in der SV in Werl befindet sich an der Grenze der früheren Höchstfrist; und genau ein Drittel hat sie bereits überschritten. Es fällt schon schwer, hier das Minimierungsgebot des Urteils BVerfG angesichts dieser Zahlen zu erkennen. Die 10-Jahres-Frist stellt vom Gesetzgeber her noch einmal eine besondere Zäsur dar. Unter dem juristischen Stichwort: „Umkehr der Beweislast“ muss der Nachweis für eine Gefahr, die von einem Untergebrachten ausgeht, konkret und auf seine Person bezogen benannt werden. Und wenn im Erleben der Untergebrachten ihre Lebenszeit kein relevanter Faktor, nicht selten die Verweildauer in der SV die Länge der Haftzeit übersteigt und sie häufiger zu einem Trauergottesdienst eingeladen werden, als dass sie jemanden in die Freiheit verabschieden können, dann steigt bei ihnen die Angst, sie könnten auch jemand sein, für den ein letzter Gottesdienst Realität werden könnte, sie könnten auch zu dem Rest der Untergebrachten gehören, die bleiben werden.

Dieser Restgedanke ist vom BVerfG nicht gedacht gewesen, aber er greift Raum in den Köpfen der an den Entscheidungsprozessen Beteiligten, zumeist in der Form unausgesprochener Voreinstellung. Und da Entscheidungsprozesse oft nicht von Einzelpersonen, sondern von Teams getroffen werden, sind die mit den Bedenken deutlich überrepräsentiert. Dies kann nicht verwundern, wenn die Sicherheit der Bevölkerung die handlungsleitende Haltung darstellt. Und bisweilen werden Untergebrachte sogar mit der Frage konfrontiert: “Was wäre so schlimm daran, wenn Sie hier sterben müssten?!“

Fazit

All diese Dinge, wenn man sie sich in ihrer Gesamtheit einmal vor Augen führt, lassen einen eher staunen darüber, dass überhaupt noch 50 % der Untergebrachten mit den Bediensteten in Kontakt gehen und nicht der komplette Rückzug der Regelfall ist. Innerlich berührt sind eigentlich alle, auch wenn sie es nicht so differenziert darstellen, sondern im Kontakt eher wieder den einen – bisweilen kleinen – Punkt benennen, der sie gerade aufbringt und an die Angst andocken lässt, dass sie bleiben könnten/werden. Hinzu kommt die Angst, dass die in der Therapie gestellten Hürden für sie nicht zu überspringen sind. Resignation, Rückzug, Verzweiflung, unumkehrbare Enttäuschung, Wut – all das sind verständliche Reaktionen. Ein innerlicher Kampf zwischen Depression und Aufbegehren auch. Aus der neueren soziologischen Forschung entstammt der Begriff, der in der Lage ist all dies auf einen Terminus zu bringen: Er lautet: „dying without death“, Sterben ohne Tod.

Dieses ernüchternde Fazit aus gefängnisseelsorgerlicher Sicht, orientiert an den Faktoren der Lebenswirklichkeit der Untergebrachten, erfüllt in keiner Weise den Geist des Urteils vom 4. Mai 2011. Leider hat das Gericht selbst einem Therapieoptimismus gefrönt, der unter den gegebenen Umständen bei der Haltung des vorhandenen Personals nur in Einzelfällen Erfolge zeigt. Mehr noch: Es hat mit ihrem vernichtenden Urteil der bis dato praktizierten Form der SV Hoffnungen geschürt, die zumindest für die derzeit noch Einsitzenden einen Anteil an ihrer Frustration hat. In gewisser Weise gibt es sogar eine Spannung zu dem Urteil über die lebenslange Freiheitsstrafe. Dort heißt es, dass zur Menschenwürde die Erlangung der Freiheit gehört „ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit.“ Aber genau diese, umfangreiche Entwicklung der Persönlichkeit ist bei der derzeitigen Praxis unabdingbare Voraussetzung für die Erlangung der Freiheit aus der SV.

Auswege

Unter den derzeitigen Bedingungen in der SV bleibt der Seelsorge vielfach nur übrig, all diesen Enttäuschungen zu zuhören. Ferner ist es wichtig, andere Settings zu schaffen, in denen Untergebrachte andere Erfahrungen von Begegnung ermöglicht werden. Vielfach wird bei ständig steigender Zurückgezogenheit eine aufsuchende Arbeit zu wählen sein, was ab einer bestimmten Größe der Einrichtung ein Zeitproblem darstellt. Und schließlich braucht es einen sehr langen Atem, um Projekte wie das Kapellen- und Café-Projekt trotz aller Widerstände zu einem Ende zu bringen. Darüber hinaus wäre noch einmal grundsätzlich nachzudenken. Die aus den europäischen Nachbarländer bekannten long-stay-Einrichtungen könnten ohne die Anbindung an eine bestehende JVA mit einem anderen Konzept die derzeitige Klientel deutlich besser entsprechen: Ehrlicher wäre es einen Ort zu schaffen, der nach außen gesichert, nach innen mit viel Selbstverwaltung inclusive Formen der Subsistenzwirtschaft arbeitet.

Einen Ort, an dem Untergebrachten gesagt wird, dass sie so lange bleiben können, wie sie wollen, ohne ihm jährlich vor Augen zu führen, dass es nicht oder zumindest noch nicht reicht. Einen Ort, an dem sie in ihren Stärken gefördert werden und ihnen in Teilbereichen Verantwortung und Vertrauen entgegengebracht wird. Einen Ort, an dem mehr Raum für Hobbys und Selbstbeschäftigung ermöglicht wird. Einen Ort, an dem Therapie ein frei zu wählendes Angebot ist, ohne dass es zum Nachteil wird, wenn man es ablehnt. Leider ist weder vom Bundesverfassungsgericht noch in den Justizministerien der Länder soweit gedacht worden. Man hat diese Chance vertan, obwohl für eine kurze Zeit vieles gedacht wurde. Und nach 10 Jahren erlebter Praxis entstand der Titel für diesen Aufsatz: Haft ohne Horizont.

Pfarrer Adrian Tillmanns
Von 2006 bis 2021 evangelischer Seelsorge in der JVA Werl und mit der dort befindlichen SV betraut.
Von 2009 bis 2014 Beauftragter der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland für die Sicherungsverwahrung.
Sprecher der ök. AG SV der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (seit 2015)

 

1 Rückmeldung

  1. M. Michels sagt:

    Lieber Adrian Tillmanns,
    vielen Dank für die Artikel zur zehnjährigen Neuordnung der SV – sehr klarsichtig und übersichtlich! In Hamburg ist die Situation auch eher desolat, zu den wenigen, die sich seit Jahren für eine strukturierte Entlassung einsetzen und SVer in Projekte des begleiteten Wohnens aufnehmen, gehört der Hamburger Fürsorgeverein. Vielen Dank auch für die Aufnahme in den Newsletter der Gefängnisseelsorge!

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