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10 Jahre nach Reform der SV Regelung: Es geht um Behandlung

1. Oktober 2024

Das Ziel der Reformregelung der Sicherungsverwahrung (SV) vom 1. Juni 2013 sollte Unterbringungszeiten verkürzen und die Zahl der Untergebrachten verringern. Die stetig steigenden Unterbringungszahlen zeigen aber, dass dieses Ziel in den meisten Bundesländern nicht erreicht worden ist. Und dies, obwohl die Straftaten wie Diebstahl oder Betrug aus der Maßregel SV herausgenommen sind. Stattdessen werden Einrichtungen gebaut oder vorhandene erweitert (z.B. in der niedersächsischen JVA Meppen, in der JVA Offenburg und in der thüringischen JVA Tonna). Einige Beobachtungen aus Sicht der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Sicherungsverwahrung.

Die christliche Gefängnisseelsorge (katholisch und evangelisch) sieht folgende Gründe

  • Das Prinzip des Abstandsgebots, die Verhängung der SV als „ultima ratio“ ¹, wird vermehrt nicht als Abwendung von der SV ², sondern als Strafverschärfung eingesetzt.
  • Eine zunehmende Überalterung in den Einrichtungen: Je älter der Untergebrachte ist, desto geringer und unrealistischer ist der Wunsch entlassen zu werden. Es wird eine Versorgungsmentalität gefördert. Eine lange Unterbringungsdauer bedroht das Beziehungssystem des Untergebrachten. Die Rente ist oft ungeklärt, damit wird das Leben „draußen“ zu einer anonymen und unbestimmten Größe.
  • Starke Tendenzen zu Demotivation, selbstgewählter Isolation und Rückzug: Nach der Gesetzesreform sind „Angebote insbesondere zur psychiatrischen, psycho- und sozialtherapeutischen Behandlung des Untergebrachten (auch individuell zugeschnittene Angebote, wenn standardisierte Behandlungen keinen Erfolg versprechen oder allein nicht genügen) vorzuhalten. Dem steht eine grundlegende und strukturelle Schwierigkeit entgegen: Weisungsgebundene Fachdienste betreuen und bewerten. Diese Doppelrolle verhindert das Aufbauen von Vertrauen. Dies führt zu Rückzug und Isolation. Großzügig gestaltete Freizeiträume bleiben oft ungenutzt. Bei den Fachdiensten/Gutachtern wiederum besteht große Skepsis, zu lockern oder zu entlassen.

  • Eine große Klagebereitschaft: Aus Frustration wird sich „am System abgearbeitet“, da kaum Aussicht auf Lockerung bzw. Entlassung besteht. Die Auseinandersetzung mit der (eigenen) Lebensgeschichte und Delinquenz tritt zwangsläufig in den Hintergrund. Im Gegenzug müssen die Entscheidungsträger die Stellungnahmen abarbeiten und die Untergebrachten geraten in die Rolle des Querulanten.
  • Eine (mediale) Dämonisierung der SV: Relevant für die Unterbringung in der SV ist die „Verletzung der körperlichen Unversehrtheit“. In der (öffentlichen) Wahrnehmung fokussiert sich das auf Sexualstraftäter. „Mit denen“ will man nichts zu tun haben. Zwischen Gericht, Vollzug, Begutachtung werden Verantwortungen verschoben. Keiner will verantwortlich sein bei einem Rückfall.

Aus Sicht des christlichen Menschenbildes geht es uns um die Lebensumstände der Untergebrachten, die haftähnlichen Bedingungen unterzogen sind, statt sich am Leben in Freiheit zu orientieren, wie es die Gesetzesnovelle vorsieht. Der Umgang mit den Betroffenen ist eine Messlatte für die Rechtstaatlichkeit unseres Staatswesens (nach GG Art. 1).


Darum sehen wir als Gefängnisseelsorge das Verfehlen des Zieles der Reform in einer weiter bestehenden zu großen systemischen Nähe zwischen Strafvollzug (JVA) und Sicherungsverwahrung (SV), die zu ständigen Überschneidungen führt und damit keine Klarheit über die Vollzugsform bringt, sondern vernebelt. Die unserer Meinung nach humane Ausrichtung der Gesetzesreform stößt damit in seiner Umsetzung an (zu) enge Grenzen. Siehe Verwahrung statt Behandlung

Lösungsmöglichkeiten aus dem Dilemma einen Weg zu finden

  • Den Begriff „Sicherungsverwahrung“ zu korrigieren. Es geht nicht um „Verwahrung“. Behandlung und Therapie sollten den Schwerpunkt bilden mit einer zukunftsoffenen Perspektive.
  • Die SV ist nicht dem Justizministerium, sondern dem Sozialministerium (entsprechend der Unterbringung in einem Psychiatrischen Krankenhaus § 63 oder Entziehungsanstalt §64) zuzuordnen. So bekommt das Abstandsgebot seine trennende Wirkung. Dieser Zuordnung liegt ein positiveres Menschenbild zugrunde (es geht um Menschen und Patienten und nicht um Verbrecher). Die Schweigepflicht der behandelnden Personen hätte ein größeres Gewicht und fördert das Vertrauen. Siehe Berater versus Bewerter

Folgende Korrekturen schlagen wir im Sinne des Reformgesetzes vor

Die Sicherungsverwahrung in eine Einrichtung zu ändern, die eine selbstverantwortende Haltung in sozialer Kompetenz ermöglicht und fördert (Habitus). Diese Einrichtung bietet den Betroffenen:

  • Sich selbst zu organisieren.
  • Den Tagesablauf, Gestaltung der Räume, etc. betreffend auszugestalten. ³
  • Gebäude und Gelände zu bewirtschaften.
  • Je nach Begabung einer entsprechenden Arbeit nachzugehen.
  • Angebote von Ausbildungen und Weiterbildungen.
  • Therapien von unabhängigen TherapeutInnen.
  • Keine Bestrafung bei Verweigerung von Therapien. Therapie ist Hilfe und kein Zwang.

Zusammenfassend empfehlen wir für eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation

  • Das Grundanliegen der Gesetzesnovelle in den Vordergrund zu rücken.
  • Einzelsupervisionen für Bedienstete.
  • Spezielle therapeutische Fort- und Weiterbildungen.
  • Therapieangebote ausweiten.
  • Durchführung der therapeutischen Angebote, die unabhängig arbeiten.
  • Kritisches Überdenken des Gutachterwesens.
  • Eine erhöhte Durchlässigkeit offener Lebensbereiche.

Die Gefängnisseelsorge in ökumenisch ausgerichteter Form hält an ihrer grundsätzlichen Kritik an der SV fest wie sie in dem gemeinsamen Papier der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland und der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. zusammen mit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAGS) und der damaligen Evangelischen Konferenz für Straffälligenhilfe im Mai 2003 formuliert wurde: Gegen Menschenverwahrung. Ein Plädoyer zur Abschaffung der Sicherungsverwahrung.

Die Gefängnisseelsorge wird die Menschen, die in der Sicherungsverwahrung leben und arbeiten weiter begleiten. Sie fordert eine grundlegende Trennung von Strafvollzug und SV ein. Perspektivisch erwartet sie, dass bei einer Angleichung der europäischen Justizsysteme das Instrument der SV aufgehoben wird.


¹ Die Verhängung der SV als ultima ratio ist im Urteil begründet. Sie ist von den „Behandlung(s)“-Geboten (Individualisierungs-, Intensivierungs-, Motivierungs-, Trennungs-, Kontroll- und Minimierungsgebot zu trennen).
² Die Unterbringung in der SV ist für Delinquenten ein „Sonderopfer“, da die verhängte SV auf „Gefährlichkeitsprognose und nicht auf dem Beweis begangener Straftaten beruht“ (BVerfG vom 4.5.2011): eine juristische Formulierung, die für die „Real-Opfer“ aus seelsorgerlicher Sicht stigmatisierend und verletzend ist.
³ Vgl. zur Beschreibung der Einrichtungen auch Adrian Tillmanns, Haft ohne Horizont, Auswege, 2021

Titelbild: Wohnraum im Erweiterungsbau der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Diez zur Unterbringung von Häftlingen, für die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. (Foto: Imago)

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