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Begegnen, begleiten und das Leben deuten

31. Mai 2020

Auf Gefängnisseelsorge am „AndersOrt“ kann die Kirche nicht verzichten, wenn sie ihrem Auftrag treu bleiben will. Das gilt auch und gerade angesichts einer säkularen Gesellschaft sowie eines fundamentalen Wandels in der Kirche. Kirchliche Seelsorge orientiert sie sich am Wort und Handeln Jesu, Vorbild und „Prototyp“‘ aller Seelsorge. Dabei bleibt seine Leitfrage in der heilenden Begegnung auf seinem Weg bleibende Verpflichtung: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lukas 18,41) Eine praktisch-theologische Vergewisserung sowie pastoraltheologische Impulse zur Seelsorge im Justizvollzug.

„Die Kirche ist in der Hand des Spielmanns Christus das Instrument, auf dem das Lied des Lebens gegen den Tod erklingen soll“ (vgl. Rolf Zerfaß, Ein Lied vom Leben. Orpheus und das Evangelium). Mit diesem Bildvergleich hat um das Jahr 350 der ägyptische Kirchenvater Clemens von Alexandrien das Selbstverständnis und den Auftrag der Kirche auf den Punkt gebracht. Die Aussage knüpft an den bekannten griechischen Mythos vom Spielmann Orpheus in der Unterwelt an. Als seine geliebte Frau, die Nymphe Eurydike, gewaltsam ums Leben gekommen ist, steigt er mit seiner Lyra in den Hades hinab, um den Tod mit Musik und Gesang umzustimmen und zu überwinden. Sein Versuch scheitert tragisch. Erst Christus, dem zweiten Orpheus, gelingt das Wagnis. Nach seiner Kreuzigung ist er in das Reich des Todes hinabgestiegen.

Orpheus beruhigt die wilden Tiere, antike römische Mosaike, Hatay Museum, Antakya (Antiochia), Türkei.

In der Auferstehung hat er die Menschheit, seine geliebte Eurydike, aus dem Schattenreich des Todes befreit und in die Welt des Lichtes hinaufgeführt. Die Bildsprache und Theologie der Anastasis-Ikone stellen dem Betrachter diese erlösende Botschaft eindrucksvoll vor Augen: Mit dem eigenen Aufstieg aus dem Reich des Todes zieht er Adam und Eva mit nach oben. Die Kirche hat sich als ein gut gestimmtes Musikinstrument in die Hand des auferstandenen Christus einzufügen, um das österliche Halleluja als ein „Lied des Lebens gegen den Tod“ anzustimmen. Diese Vorbemerkungen sind nicht zufällig gewählt, sondern erinnern an den Kopfsatz der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils. Darin heißt es: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (LG 1,1). Die folgenden Überlegungen zu den Zukunftsperspektiven für die Gefängnisseelsorge sind von diesem Leitmotiv inspiriert.

„Was nun?“ Zeitsignaturen als Herausforderungen

Gesellschaftliche Grundwellen und Verwerfungen verschonen nicht die Gefängnisseelsorge, sie verebben nicht vor den Toren des Justizvollzugs. Phänomene wie Säkularisierung, Pluralisierung und Globalisierung, multikulturelle Gesellschaft, religiöse Diversität usw. lassen sich in ihr als Mikrokosmos wie unter einem Brennglas beobachten. So kommt es nicht von ungefähr, dass sich nach dem flächendeckenden Ausbruch des Covid19 Virus nicht wenige Gefängnisse zu Hotspots der Pandemie entwickelt haben. Wenn ich die Situation zutreffend wahrnehme, dann hat sich die Seelsorge im Justizvollzug neben der Bewältigung der ganz aktuellen Krise folgenden Herausforderungen zu stellen:

  • Die Zahl der alten und alternden Menschen im Justizvollzug und in der Sicherungsverwahrung nimmt signifikant zu (vgl. dazu die Beiträge in AndersOrt 1/2018). Aufgrund von Krankheit, Multimorbidität im Alter sowie dem Sterben im Justiz- und Maßregelvollzug und bei Menschen in der Sicherungsverwahrung überlappen sich die Aufgabenfelder der Gefängnisseelsorge immer mehr mit denen der Krankenhaus-Seelsorge.
  • Der geltende Rechtsstatus der Seelsorge incl. Zeugnisverweigerungsrecht und Beichtgeheimnis wird immer häufiger hinterfragt und stellt diese unter einen bisher nicht gekannten Rechtfertigungsdruck.
  • Das Tabu-Thema „physische, psychische oder/und sexualisierte Gewalt im Knast“ fordert die Gefängnisseelsorge in doppelter Weise heraus. Neben einem angemessenen Umgang mit diesem Thema der Seelsorge im Strafvollzug muss sie sich zugleich einer nicht abebbenden Diskussion um sexualisierte Gewalt und geistlichen Missbrauch durch Vertreter der katholischen Kirche und im Raum der Kirche stellen.

Besuch in der Justizvollzugsanstalt hinter Trennscheibe: Eine Begegnung auf Abstand mit weitreichenden Folgen.

Das sind nur einige Zeitsignaturen, zu denen sich die Seelsorge im Justizvollzug situationsgerecht zu verhalten hat. Die erfahrenen Akteure in der Seelsorgepraxis werden ganz gewiss weitere Problemanzeigen benennen und das Themenfeld um wichtige Aspekte erweitern können. Diese bilden dann die Folie, vor der im nächsten Schritt über zielgerechte Kriterien für ein reflektiertes Urteilen und Handeln der Seelsorge nachgedacht werden soll.

„Suchen und fragen, hoffen und sehn…“ Zur Kriteriologie

Seelsorge als „AndersOrt“ im Justizvollzug realisiert in spezifischer Weise die Nachfolge und Repräsentanz Christi. Angesichts menschlicher Schuld und des Scheiterns von Lebensentwürfen steht sie dafür ein, Resonanzräume für die Hoffnung auf ein „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) zu eröffnen und offen zu halten. Wie ein gut gestimmtes und harmonisch klingendes Musikinstrument soll Kirche auf Jesus Christus verweisen, der mit seinem stellvertretenden Kreuzestod das Heil der Welt und damit für die Menschheit die Versöhnung erwirkt hat. Rückgebunden im Glauben an Christus will die Seelsorge im Auftrag der Kirche Menschen befähigen, ihr Leben vor Gott zu verantworten und das eigene Handeln im Licht des christlichen Glaubens zu entschlüsseln.

Diese Dimension macht Seelsorge unterscheidbar gegenüber Psychologie, Psychotherapie und Beratung, auch wenn es in der konkreten Praxis vielfältige Berührungspunkte, Überschneidungen und Kooperationen mit ihnen gibt. Adressaten der Seelsorge sind sowohl Menschen im Strafvollzug, solche, die in der U-Haft ein Gerichtsverfahren erwarten, rechtskräftig Verurteilte und Inhaftierte, Personen in der Sicherungsverwahrung wie auch Leitung und Mitarbeitende in der JVA mit den unterschiedlichen Professionen. Ihren Dienst realisiert Seelsorge als „begegnen, begleiten und das Leben deuten im Horizont des christlichen Glaubens“ (Michael Klessmann).

Bei der biographischen Spurensuche im Leben von Menschen, die schuldig geworden sind, kommt die Seelsorge im Justizvollzug unweigerlich mit den dunklen Seiten von Menschen und der Menschheit in Berührung. Mit dieser Wirklichkeit gilt es im Sinne der Salutogenese ressourcenorientiert und konstruktiv (vgl. Christoph Jacobs/ Heike Schneidereit-Mauth) umzugehen. Das kann nur gelingen, wenn man als SeelsorgerIn in der JVA bereit und kompetent ist, in der Begegnung mit der dunklen Seite des Gegenübers den eigenen Schatten nicht abzuspalten, ihn nicht zu verdrängen, vor ihm nicht wegzulaufen. Dann erst nehmen ihnen die Menschen die Botschaft von Jesus Christus ab, wenn sie ihr eigenes Leben vom „Christus medicus“, dem Heiland und verwundeten Arzt, berühren lassen. Denn er kennt unsere und meine verborgenen dunklen bzw. unerlösten Seiten (vgl. Joh 2,25) und nimmt sie in Liebe an. Beispielhaft sei an die Paulusbriefe, an die Begegnung des Auferstandenen mit Simon Petrus am See von Tiberias (Joh 21,15-17) oder an die Erzählung von der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1-49) erinnert: In der Begegnung mit Jesus Christus erschließen sich ihnen Quellen, die den beiden jeweils eine lebens- und tragfähige Antwort auf ihre spezifische Sehnsucht nach einem neuen Leben eröffnen.

Kriterien für angemessenes seelsorgliches Handeln im Justizvollzug

1. Seelsorge ist personal, im Gegenüber kann man das Geheimnis „Mensch“ entdecken und dechiffrieren. Daher hat sie die konkrete Person im Blick und nimmt ihre unverwechselbar einzigartige Biographie mit ihren Licht- und Schattenseiten, ihrer Vulnerabilität und den dunklen Seiten ernst.

2. Seelsorge ist diakonisch und versteht sich als absichtsloser Dienst der Kirche an den unterschiedlichen Adressaten im Justizvollzug.

3. Seelsorge ist kontextuell und entwickelt ein Gespür für die kulturelle Vielfalt – unter den Gefangenen, den Mitarbeitenden und der Anstaltsleitung. Diversität ist für sie kein Fremdwort und stellt auch keine Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses dar.

4. Seelsorge ist der Evangelisierung mit ihrer doppelten Perspektive verpflichtet; sie kennt und anerkennt ihren Sendungsauftrag für Menschen im Auftrag Jesu und akzeptiert die eigene Fehlerhaftigkeit und Bedürftigkeit mit der Konsequenz der Umkehr (LG 8,3) und Selbstevangelisierung (vgl. EN 15).

5. Seelsorge denkt entwicklungs- und prozessorientiert. Der Gradualität ist sie in Begleitung, Beratung und Lebensdeutung aus dem christlichen Glauben verpflichtet.

6. Seelsorge ist Dienst im Auftrag der Kirche und unterzieht sich in regelmäßigen Abständen einer Qualitätskontrolle durch das Kollegium und die kirchliche Leitung (Visitation). Zugleich achtet Seelsorge darauf, dass die seelsorglich begleitete Person unmittelbar auf Jesus Christus resonant werden und sich die Kirche als Instrument in der Hand Christi diskret zurücknehmen kann.

7. Seelsorge ist gastfreundlich und offen für überraschende Begegnungen. Sie vertraut auf die frohe Botschaft von der endzeitlichen Mahlgemeinschaft der Sünder, zu denen Jesus in seinen Gleichnissen eingeladen hat.

8. Seelsorge ist stellvertretend gelebte Hoffnung, die beim Adressaten die ihm von Gott geschenkte, nicht kündbare Würde immer wieder in Erinnerung ruft und wachhält.

9. Seelsorge ist eschatologisch. Sie widersetzt sich einer diesseitigen Machbarkeits-Logik und vertraut auf die Vollendung des Menschen und der ganzen Schöpfung bei Gott.

 

Mit Papst Franziskus hat die Seelsorge im Justizvollzug einen prominenten Anwalt für ihren Dienst erhalten. Ihn zieht es immer wieder zu den AndersOrten im Justizvollzug. Mehrfach hat er dort in der Gründonnerstagsliturgie Strafgefangenen die Füße gewaschen. Unvergessen bleibt der „Kreuzweg der Gefangenen“, den Papst Franziskus mit Häftlingen und Mitarbeitern der Haftanstalt „Due Palazzi“ in Padua entworfen und am Karfreitagabend 2020 Corona-bedingt auf dem menschenleeren Petersplatz vorgetragen hat (vgl. Stefan von Kempis: Vatikan veröffentlicht Kreuzweg-Meditationen, Vatican News vom 6. April 2020). Seine geistlichen und pastoralen Impulse erweisen sich als ungemein fruchtbar für die Vergewisserung und Fortschreibung einer Kriteriologie mit den spezifischen Anforderungen einer Seelsorge im Justizvollzug. Nicht zuletzt nehme ich sie als eine Ermutigung für die SeelsorgerInnen in diesem herausfordernden Handlungsfeld wahr.

Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen.

„…und nun?“ Handlungsperspektiven

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen für die Fortschreibung der Seelsorge im Justizvollzug? Fünf Handlungsperspektiven möchte ich aus diesen Überlegungen ableiten und zur Diskussion stellen.

These 1

Seelsorge im Justizvollzug hat die Säkularität der Gesellschaft und den sich daraus ableitenden Kulturwandel ideell und strukturell zu akzeptieren. Dahinter steht ein neues Verständnis der Pastoral, das nicht mehr für andere, sondern mit den Anderen denkt und handelt. Mit diesem Perspektivwechsel kann sie im Geist Jesu angemessener auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen antworten. Als „Ökumene der dritten Art“ (Eberhard Tiefensee) – neben der Ökumene zwischen Konfessionen und Religionen – kann sie mit einem solchen Verständnis die immer häufiger anzutreffende und erlebte Diasporasituation im Sinne einer kreativen Minderheit (Bischof Gerhard Feige) annehmen. Hat sie einmal diese Rolle akzeptiert, dann kann sie in den Dialog und in Kooperation mit unterschiedlichen Gesprächspartnern eintreten und die multikulturelle Vielfalt und religiöse Diversität am AndersOrt „Justizvollzug“ proaktiv mitgestalten.


These 2

Seelsorge im Justizvollzug orientiert sich an der Praxis Jesu und seiner diakonisch-kenotischen Grundhaltung, wie Paulus sie im Philipperhymnus überliefert hat (Phil 2,5-11). Diese These knüpft organisch an These 1 an und benennt den dafür notwendigen Habitus als SeelsorgerIn. An Jesus Christus in seinem diakonisch-kenotischen Selbst- und Sendungsbewusstsein Maß zu nehmen hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis und Handeln in der Nachfolge. Dabei sei an die Bildworte von Papst Franziskus von der „verbeulten Kirche“ (EG 49) und der Kirche als Feldlazarett erinnert.

These 3

Der Seelsorge im Justizvollzug kommt die Aufgabe zu, im Zeithorizont der Spätmoderne die Gottesfrage im spezifischen „Zwischen-Raum“ von Justiz und Kirche wach zu halten. Dabei gewinnt der Namen „AndersOrt“ eine weitere Bedeutung: Der „AndersOrt“ als Erfahrungsort der Barmherzigkeit Gottes unter den strukturellen Rahmenbedingungen sowie den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des Justizvollzugs. Vor diesem Horizont verkündet die Seelsorge das von Jesus bezeugte und von ihm bis zum letzten Atemzug durchlebte und durchlittene Gottesbild vom barmherzigen Vater (vgl. Lk 15,11-32).

These 4

Aufgrund der Geschlossenheit des Systems „Justizvollzug“ bleibt Seelsorge sensibel für ihre eigenen und systemspezifischen Fehlformen, z.B. geistlicher Missbrauch in der Begleitung und Beratung, unangemessenes Verhalten im Umgang mit Nähe und Distanz, unprofessionelle Gestaltung der asymmetrischen Beziehung gegenüber Gefangenen… Sie formuliert berufsethische Standards und macht diese sowohl gegenüber den Personen, die sie seelsorglich begleitet, als auch gegenüber der Anstaltsleitung öffentlich. Im Sinne einer Qualitätskontrolle professioneller Seelsorge stellt sie sowohl eigene Reflexionsschleifen als auch eine in regelmäßigen Abständen durchgeführte externe Überprüfung, z.B. Auditverfahren, sicher.

These 5

Im Sinne einer „geordneten Selbstliebe“ (Karl Frielingsdorf) sind hauptberufliche SeelsorgerInnen kompetent in einer weitsichtigen Gesundheitsvorsorge und christlichen „Selbstsorge“ und stellen diese sicher. Zu den Hygienemaßnahmen der ganzheitlichen Leib-Sorge zählt die Verantwortung für die geistliche Nahrung (Exerzitien, Wüstentage, Kloster auf Zeit..) sowie die kulturelle Nahrung (Musik, Theater, Literatur, Film…). Daneben sei auf Coaching, Supervision und kollegiale Praxisberatung hingewiesen. Von ihren Dienstvorgesetzten im zuständigen (Erz-) Bischöflichen Generalvikariat können sie deren Beitrag zur Personalfürsorge und die entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen zur Gesundheitsvorsorge erwarten.

Den Orpheus-Christus-Bildvergleich des ägyptischen Kirchenvaters Clemens von Alexandrien habe ich den Ausführungen vorangestellt und damit ein mögliches Leitmotiv für die Seelsorge im Justizvollzug benannt. Am Ende könnte man das Wort des Kirchenvaters wie folgt umformulieren: „Kirchliche Seelsorge in den Einrichtungen des Justizvollzugs ist in der Hand des Spielmanns Christus das Instrument, auf dem das Lied des Lebens gegen den Tod erklingen soll.“ Dieser Dienst erweist sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage wie auch der aktuellen Kirchenstunde als Herausforderung, die um Gottes und der Menschen willen den ganzen Einsatz lohnt. Vortrag als PowerPoint…

Prof. Dr. Martin Lörsch | Theologische Fakultät Trier

 

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