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Trotz Gefühl von „nicht genügen“ auf Leben vertrauen

8. Dezember 2020

Seit Monaten wird über dasselbe Thema gesprochen, debattiert und gestritten. Corona hier, Corona da, mal dieser Aspekt, mal jener. Morgens im Radio, mittags auf der Website, abends im Fernsehen: Die Seuche ist omnipräsent und bestimmt alles. Wir kennen die Zahlen der Infizierten und der Verstorbenen, wir kennen die Hygieneregeln und die immer wiederkehrenden Appelle und Warnungen der Politiker. In den Talkshows gibt nichts Neues. Vielleicht ein Impfstoff? Wann und wo werden die Menschen geimpft? Auf das Leben vertrauen?

In Salamitaktik werden wochenweise die Regeln verändert und verschärft. Als wenn man nicht wüsste, dass die Ansteckungsrate hoch ist und immer höher wird. Das Virus ist unberechenbar. „ES werden schwere Monate werden“, sagt die Bundeskanzlerin. Das merke ich doch! Die Überschriften der Schlagzeilen wiederholen sich. Wir tun zu wenig gegen die Pandemie. Dies erzeugt ein ungutes Gefühl, nicht weil ich ein schlechtes Gewissen habe, sondern weil ich und wir nicht genügen. Jede Kraftanstrengung bringt anscheinend nichts. Der Light-Lockdown ist nicht effizient, die Infektionszahlen sinken nicht. Tun wir immer noch zu wenig gegen die Seuche? Es braucht schärfere Maßnahmen und härtere Regeln. Und das täglich. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür.

Heilige Kuh „Weihnachten“?

Als wenn das Weihnachtsfest das wichtigste im Leben wäre. Die „versprochenen Lockerungen“ sollen zu diesem Termin aufgehoben werden. Die Vorschläge sind mannigfaltig, aber sie ähneln einander: Ausgangssperre ab 21 Uhr bis 5 Uhr morgens. Als wenn ich um diese Zeit zig Leute treffen würde. Das Beherbergungsverbot ist mir vor einigen Monaten noch in Erinnerung. Das wurde von einem Gericht gekippt. Dann die Androhung der Kontrolle privater Räume. In Folge dessen gibt und gab es Bespitzelung eifriger Nachbarn. Welche wilden Auswüchse soll es noch geben? Anfang November hieß es, jetzt machen wir vier Wochen Light-Lockthown und dann können wir gut Weihnachten feiern.

Der spätromanische Dom St. Petrus in Osnabrück mit einem einsamen Karussellfahrer auf dem Platz vor dem Dom.

Als „Heilige Kuh“ bezeichnet die Psychologin Cornelia Betsch das Weihnachtsfest. Sie ist Gesundheitspsychologin und Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt. In unserem angeblich christlichen Abendland, in der ein Großteil der Menschen aus den Kirchen austreten, ist die Botschaft der Geburt Jesu und der liturgische Bezug zweitrangig. Die Weihnachtsfeiern bedürfen nicht unbedingt der schönen Chöre als Deko für das eigene Marzipan-Weihnachten. Oder doch?  Der immer gern besuchte Weihnachtsgottesdienst in der gut beheizten Kathedrale soll ausfallen? Das geht gar nicht! Wenn ich Verwandte frage, bedeutet dies der Weltuntergang. Das ganze Jahr kein Schritt in die Kirche wagen, aber an Weihnachten einen Platz reservieren… Weihnachten sei „ein Fest des Glaubens und der Familie, das gerade in der Zeit der Pandemie vielen Menschen Trost und Hoffnung schenkt“, so der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten. Und was ist danach?

BürgerInnen zu Laissez-faire?

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder nennt den Grund für hohe Corona-Zahlen: Es gäbe ein „Schlendrian“ im Umgang mit der Gefahr der Erkrankung. Damit suggeriert er Bequemlichkeit und Achtlosigkeit. Das macht einem schon ein schlechtes Gefühl. Was soll ich denn noch alles tun? Mich einschließen, absperren, auswandern? Wohin?  Seit Monaten sitze ich in freier Zeit in der Wohnung und traue mich nicht einmal zu einem Spaziergang raus. Einmal die Woche gehe ich „groß“ einkaufen. Mit Maske natürlich und mit viel Abstand. Der einzige Ort an dem ich auf Menschen treffe, ist mein Dienstort: die Justizvollzugsanstalt. Hier ist das Brennglas der sozialen Probleme. Ich entdecke zur gegenwärtigen Situation „draußen“ viele Ähnlichkeiten in der Art und Weise von „Krisenbewältigung“.

Seit Anfang November gibt es auch hier eine Maskenpflicht für die Bediensteten. Nicht für die Gefangenen. Außer die Neuzugänge, die auf der Quarantäneabteilung für 14 Tage untergebracht sind sowie auf das Virus getestet werden. In den Gesprächen halte ich Abstand, lüfte, bis der Frost fast an den Wänden klebt. Die Plexiglastrennscheibe für das Seelsorgebüro ist immer noch nicht fertiggestellt. Die brauchen wir auch nicht. Zuviel ist zu viel. Ich habe den Eindruck, ich genüge nicht. Ich denke darüber nach, ob ich dienstlich in Gruppen dabei sein muss. Großes Dienstgespräch im größten Raum der Anstaltskirche mit Abstand, die Personalversammlung oder die so wichtige Supervisionsgruppe? Kontakte vermeiden ist angesagt. Ins Homeoffice kann ich als Gefängnisseelsorger nicht gehen. Telefonisch oder per Skype mit den Inhaftierten seelsorgerliche Gespräche führen? Das ist absolut nicht möglich. Auch wenn ich es wollte.

Dem Leben selbst vertrauen

Die Corona-Pandemie beschäftigt uns rund um die Uhr, und das hat seinen Grund: Das Virus ist gefährlich und unberechenbar, es fordert alle heraus. Und doch schleicht sich das Gefühl ein, ich kann nichts oder zumindest nicht so viel dagegen tun. Ich genüge nicht. Ich kann mich noch so gut schützen, es bringt nichts. Das ist das Gefühl, dass mich immer und immer wieder beschleicht. Da nutzt es auch nichts, wenn der Anstaltsleiter beim großen Dienstgespräch auf das Rednerpult klopft und sagt: „Wir haben toi, toi, toi die Pandemie bis jetzt (Stand: Dezember 2020) gut überstanden.“ Die Gespräche mit Bediensteten sind kurz und knapp. Niemand geht mehr locker in den Alltag oder gefährdet leichtsinnig seine Gesundheit. Angebliche Zuwiderhandlungen werden unterschwellig immer wieder in den Medien als Vorwurf auf alle Menschen projiziert.

Vielleicht muss ich in das Leben selbst vertrauen. Das ist eine schwierige Sache: Ver-Trauen. „Hat es Dich noch nicht erwischt?“, fragt mich eine Kollegin per E-Mail. Wer weiß, wann dieser Zeitpunkt kommen wird. Ich schütze mich seit geraumer Zeit davor, die schlechten Nachrichten in mich aufzusaugen. Ich will das nicht mehr. Ich kann auch nicht mehr. Die einzige Sicherheit gibt mir meine Arbeit. Im Knast ist die Welt noch in Ordnung. Ob es das wirklich ist? Mit einigen wenigen Einschränkungen – wie der Besuch hinter Trennscheibe – läuft aber alles seinen Gang. Schule, Arbeit, Freizeit- und Kochgruppen oder Sportaktivitäten. Vielleicht wäre es gut, wenn die Politiker einmal sagen würden „Wir wissen es selbst nicht“. Es werden großflächig und voller Angst Maßnahmen ergriffen, weil man nichts oder wenig weiß, an welchen Orten sich Menschen trotz Mund-Nasenbedeckung anstecken. Selbst schuld, wenn ich Zug fahre oder den Bus nehmen muss? Ich gehe davon aus, dass sich der größte Teil der Menschen an die Auflagen hält. Da gibt es Härtefälle, die berufliche Existenz steht auf dem Spiel. Menschen sterben an und mit dem Virus. Wie kann ich in solch einer Situation auf das Leben vertrauen?

Ich will es versuchen trotz aller Hindernisse und dunklen Zahlen. Als Seelsorger und Mensch glaube ich an eine „Göttlichkeit“, die uns und mich in allen Situationen begleitet, die mich trägt und voranbringt. Da begnüge ich mich mit kleinen Gesten und Augenblicken. Wie auch in der Weihnachtsgeschichte und deren widrigen Umstände beschrieben. 

Michael King

 

1 Rückmeldung

  1. Katharina sagt:

    Nicht aus einer strafenden Instanz heraus

    Die Corona-Situation weltweit ist insgesamt deprimierend und nicht absehbar und deshalb sehr verunsichernd für uns ALLE, über das, was noch alles kommt. Überall Hotspots und Ausgangssperren, was immer das heißen wird. Ich bin weniger wütend auf die Ver- und Gebote, denn Diejenigen, die das erlassen, sind ja selber betroffen und unsicher und machen so eine Pandemie erstmals durch. Deshalb vertraue ich drauf und weiß, dass alle „Verbote“ geboren sind aus einer Umsicht und Vorsicht und nicht aus einer „strafenden Instanz“ heraus, die uns kontrollieren oder reglementieren will für irgendwelche politischen Vorteile. Von daher finde ich alle Proteste dagegen irgendwie „für-die-Katz“, denn wenn ich mit der Vernunft dran gehe, sind alle Verbote nur zu unserem Schutz und niemals zum Wohle der Politiker, die das aussprechen?!

    Deshalb finde ich auch Worte wie „Salami-Taktik“ unangebracht, weil sie, diese Politiker auch Menschen sind, die alles erstmalig durchmachen. Dahinter steht keinerlei Taktik nur Sorge, bestenfalls Für-Sorge. Und die Ansprache von Merkel im Bundestag, so emotional und fast schreiend ausgerufen, das zeigt eigentlich nur, wie ernst die Lage in dieser Pandemie tatsächlich ist. Ich kann mich nicht ärgern über Menschen, die Politik machen und die ebenfalls, wie wir, so eine weltweit-beschissene Situation versuchen in den Griff zu bekommen. Mir macht diese Gesamtsituation ehrlich gesagt ANGST. Und sie macht uns alle, je nach Situation des Einzelnen, un-frei. Das sind wir nicht gewohnt.

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