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All eure Gesichter: Täter und Opfer gemeinsam im Dialog

4. November 2023

Der Restorative Justice Film „All eure Gesichter“ hat seine Deutschlandpremiere im Dezember 2023. Der französische Kinofilm zeigt die Begegnung von Betroffenen von Straftaten und den verurteilten Inhaftierten. Das „zwischen den Stühlen“ spielende Drama lässt verurteilte Straftäter und Geschädigte in einem moderierten Stuhlkreis verbal zusammentreffen. Den zweiten Schwerpunkt des Films stellt eine vorbereitete Täter-Opfer-Aussprache unter Mediation von Expertin Judith dar. Hier wird die direkte Begegnung einer Betroffenen mit dem Tatverantwortlichen von sexualisierter Gewalt sensibel-klar dargestellt.

Das Ergebnis sind mitreißende Wortwechsel, authentische Einblicke ins Seelenleben der Beteiligten und ein flammendes Plädoyer für eine Stärkung alternativer Konsequenzen neben die einer möglichen Inhaftierung. Auf den ersten Blick haben Gregoire, Nawelle, Sabine und Chloe nichts gemeinsam. Bis auf die Tatsache, dass sie Opfer von Verbrechen wurden. Jetzt nehmen sie freiwillig an einem Programm für eine Täter-Opfer-Aussprache teil, in dem sie auf Kriminelle treffen, die für ihre Taten im Gefängnis sitzen. Für beide Seiten beginnt eine emotionale und schwierige Reise, in der es Mut, inneres Vertrauen und Freunde braucht, um Ressentiments zu überwinden – und sich vielleicht Wege finden, die Schatten der Vergangenheit zu besiegen.

Arbeit mit Delinquenten

Fanny und Michel sind Freiwillige, die solche Gesprächsrunden leiten: Auf die herausfordernde Aufgabe werden sie über mehrere Monate hinweg durch ein professionelles Training vorbereitet, dem wir im Prolog für ein paar Minuten beiwohnen. Unter ihrer Aufsicht können sich drei Opfer und drei Täter, die sich nicht kennen, in einem geschlossenen Kreis freiwillig miteinander austauschen. Bei den drei Tätern handelt es sich um Kriminelle, die für ihre Taten hinter Gitter gewandert sind: Nassim hat mit Komplizen Homejacking betrieben und seine Opfer in deren Häusern dazu gezwungen, Kreditkarten und PIN-Codes preiszugeben. Issa hat einen Tante-Emma-Laden überfallen und sich entgegen seinem Bauchgefühl dazu entschieden, mit einem Amateur zusammenzuarbeiten – prompt wurde er geschnappt. Intensivtäter Thomas wiederum hat einen ganzen Katalog an Rauben begangen, um seine Drogensucht zu finanzieren.

Restorative Justice

Bei diesem Modell werden Täter und Opfer gemeinsam in Dialog gebracht, um nach Lösungen, Versöhnung oder Wiedergutmachung zu suchen. Restorative Justice ist der internationale Fachbegriff für Verfahren zur außergerichtlichen Aufarbeitung der negativen Folgen von Straftaten. Sie bieten einen Rahmen, in welchem sich Opfer und Täter mit der professionellen Unterstützung durch fachlich ausgebildete MediatorInnen kommunikativ begegnen und die Tatfolgen aufarbeiten können. Opfer und/oder Angehörige bekommen die Gelegenheit zu schildern, wie sie die Tat und vor allem die Zeit danach mit ihrer Wut, Ärger und dem Schmerz erlebt haben. Täter erfahren dadurch, welchen Schaden sie angerichtet haben, und bekommen die Chance, Verantwortung zu übernehmen und die Folgen wiedergutzumachen, sei es materiell oder durch andere, individuell vereinbarte Leistungen oder persönliche Absprachen über Verhaltensänderungen in der Zukunft.

Betroffenenorientiertes Arbeiten

Die direkte Konfrontation mit Tätern kann Opfern helfen, das Erlebte in einem geschützten Umfeld zu verarbeiten, Ängste abzubauen, die Tat hinter sich zu lassen und dadurch ein neues Sicherheitsgefühl zu entwickeln und ihre Lebensqualität wiederzuerlangen. Es gibt bereits ein mediatives Tatausgleichsverfahren, auch „Täter-Opfer-Ausgleich“ genannt. Diese sind freiwillig, vertraulich, kostenlos und unbürokratisch. Sie können vor, während und im Falle schwerer Straftaten lange nach dem Ende des Strafprozesses initiiert werden, selbst dann noch, wenn die Täter inhaftiert sind. Der andere BoAS–Ansatz (Betroffenenorientiertes Arbeiten im Strafvollzug) bringt, über die individuelle Tataufarbeitung und einen häufig nicht zu realisierenden, individuellen Täter-Opfer-Ausgleich hinaus, die Chance für die Inhaftierten, sich mit den Perspektiven von Betroffenen auseinanderzusetzen, welche Erfahrung mit ähnlich gelagerten Delikten gemacht haben. Ab November 2019 hat sich eine interne Arbeitsgruppe von elf KollegInnen, bestehend aus dem Anstaltsleiter, PsychologInnen, Seelsorgern und SozialarbeiterInnen zusammengefunden und hat auf Grundlage des dargestellten Restorative Justice Konzept BoAS – angepasst an die praktischen Bedarfe der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede das Konzept „TOK – Täter-Opfer-Kreis ein moderierter Gesprächskreis zwischen Betroffenen/Betroffenenangehörigen und Tätern“ entwickelt.


Film im Knast zeigen?

Falls in Erwägung gezogen wird, den Film in einer Justizvollzugsanstalt mit Inhaftierten zu zeigen, ist dies möglich. Allerdings benötigt man einen Internetzugang, den die meisten Gefängnisse für eine Vorführung leider nicht haben. Die Produktionsfirma Studiocanal würde an die jeweilige JVA einen Screeninglink senden. Man könnte sich eine Aktion überlegen, in der Inhaftierte nach der Sichtung des Films ihre Kommentare via Videobotschaft oder schriftlichen Zitaten zusenden. Interessierte Justizvollzugsanstalten können sich an an die Koordinatorin Daniela Hirt unter boas(at)daniela-hirt.de wenden. Eine Online-Podiumsdiskussion mit Daniela Hirt (Sozialpädagogin und Traumatheraputin), Dr. Michael Kilchling (wissenschaftlicher Referent am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Abteilung Kriminologie) sowie Christoph Willms (Leiter des Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung) ist nach der Hauptvorstellung der Deutschlandpremiere geplant. Der Film ist synchronisiert und auf Deutsch in den Kinos zu sehen.

Infoflyer | Fotos: © Studiocanal

 

1 Rückmeldung

  1. King sagt:

    Ein starker Film

    Die ersten Szene des Filmes zeigt ein Gespräch mit einer Betroffenen nach einer Straftat. Zu Übungszwecken, wie sich nach wenigen Minuten herausstellt. Der Leiter und Trainer der Restorative Justice ist ganz und gar nicht zufrieden mit dem Dialog. Zu viel hinein interpretiert und unterschwellig, zu bevormundend sowie zu Rat-Schlag gebend. Mehr zuhören, mehr schweigen und aushalten lernen, meint er. Restorative Justice sei wie „Kampfsport“. Ein Jahr später ist der ältere Mann und die jüngere Frau des Mediation-Teams bei mehrwöchigen Gesprächs-Treffen im Gefängnis mit Tätern und Opfern. Der Anfang ist schwer. Schon wer wo sitzt ist vorgegeben. Die erste Vorstellung der Beteiligten folgt. Mit dabei ein kleiner Stab, dem jedem die Erlaubnis gibt zu sprechen, wenn er diesen in der Hand hält, so dass niemand jemanden ins Wort fallen kann. Eine Frau beginnt zaghaft, aber aufgebracht zu erzählen.

    Hautnah im Film dabei

    Zwei Stunden Film und ich meinte, ich säße wahrhaftig mit im Stuhlkreis. Eine Szene ist beeindruckend: Der Betroffene eines Raubüberfalls geht den einen Täter an, der „schnelles Geld“ mit Raub machte. Er sei nicht dagewesen, weil er von den Bediensteten weggesperrt wurde und weil er einen Konflikt mit einem anderen Häftling austragen musste. Die ganze Wut und Verzweiflung bricht aus dem Opfer aus. Der Täter schaut verwundert und sagt nichts mehr. „Du suchst den Fehler und die Schuld immer nur bei den anderen und nie bei Dir selbst“, bricht es aus dem Mann hervor. In den Pausen rauchen einige der Gruppe auf dem Hof. Betretendes Schweigen. Erst langsam im gemeinsamen Essen werden Verbindungen geknüpft. Verstehen kann man nicht, aber nachempfinden, was der je andere dabei empfunden und welche gravierenden Auswirkungen es gab.

    Nachvollziehen-können

    Parallel wird die Mediation einer anderen Mitarbeiterin von Restorative Justice mit einer jungen Frau gezeigt, die von ihrem Stiefbruder als Kind sexuell missbraucht wurde. Hoch komplex und zerbrechlich führt die Mediatorin Gespräche separat mit der Geschädigten und dem Täter. Am Ende steht ein Gespräch zu Dritt, bei der „das Opfer“ Fragen an den Täter stellt und klare Forderungen einer Abgrenzung zu ihm hat. Dem Täter rollen Tränen aus den Augen. „Er hätte sie doch geliebt. Du siehst so schön aus…“ Gelöst wird die Situation nicht mit Verzeihen, obwohl dies im Raum steht. Es braucht einen Punkt der Auseinandersetzung und des Nachvollziehen-können. Die erlebten Übergriffe sollen nicht das ganze Leben der jungen Frau bestimmen…

    Ein guter Weg

    Ein tiefsinniger und klarer Film mit vielen Zwischentönen und ohne fertige Lösungen zu präsentieren. Das Schwarz-Weiß wird immer mehr in Grautöne getaucht, ohne dass alles am Ende auf einen Schlag farbig wird. Der Gesprächs-Stab wird später nicht mehr benötigt. In den Pausen gibt es lecker Kuchen. Informell werden gar gegenseitig Komplimente gemacht oder Smileys an das Flip Chart zu bestimmten Aussagen gezeichnet. In einer Szene werden die MediatorInnen im Auto gezeigt, wie sie selbst für sich und ihre Psychohygiene sorgen. Das ist genauso wichtig. Restorative Justice ist Kampfsport, das wird deutlich. Es ist nicht für jeden etwas und nicht immer führen Täter-Opfer-Gespräche zu einer gelungenen Heilung. Aber es ist ein anderer und guter Weg mit Tätern und Opfer zu sprechen und mit den Konsequenzen aus Straftaten umzugehen. Ein harter Weg, der sich lohnt. Ob eine Haftstrafe im Vollzug weniger hart ist? Es soll eben nicht um die Härte einer Strafe gehen, sondern um Wiedergutmachung und den Dialog.

    Schade, dass im Kino nur 7 Personen zur Erstaufführung um 19 Uhr da waren. Der Film hätte viel mehr Publikum verdient. Doch für Unterhaltung sorgt er nicht. In der Vorweihnachtszeit will man wahrscheinlich nicht mit solchen harten Dingen konfrontiert werden. Zumal es jeden treffen könnte, Opfer oder Täter zu werden.

    Interview mit Christoph Willms, Leiter des Servicebüros Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung (TOA)

    Zur Diskussion und Gespräch mit Fachleuten: Marco Ammer (Moderator), Daniela Hirt (Praktikerin und Trainerin im Bereich Restorative Justice im Strafvollzug), Dr. Dr. h.c. Michael Kilchling (Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht) und Christoph Willms (Leitung des Täter-Opfer-Ausgleich-Servicebüros des DBH-Fachverbandes).

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