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Zwischen Herkunft und Zukunft liegen Geschichten

21. März 2021

Ein scheinbar ganz normaler Klassenraum. Vier junge Männer sitzen an großen Schultischen vom Typ HoIzimitat, jeweils eine DozentIn sitzen ihnen gegenüber. Auf den Tischen liegen große Flipchart-Plakate und dicke Stifte in verschiedenen Farben. Gebannt ruhen jeweils zwei Augenpaare auf einem von Hand gezogenen Strich, der sich mittig über das DINA A 1 große Papier zieht. Es ist eine Lebenslinie. Sie beginnt mit der Geburt und endet vorläufig mit dem aktuellen Datum. Im Gespräch suchen Teilnehmer und DozentIn nach Spuren, die das Leben der Jugendlichen bisher geprägt und gestaltet haben, positiv oder negativ. Ein Projekt von Gangway, der Straßensozialarbeit in Berlin, die die Texte im Buch „ZwischenWelten“ veröffentlichen.

Jedes Ereignis wird durch einen Punkt unterhalb oder oberhalb der Lebenslinie symbolisiert und mit Stichworten beschrieben. Die Atmosphäre im Raum ist konzentriert, die Gespräche sind persönlich und emotional, manchmal wird die Stimme des Erzählenden laut oder brüchig, mitunter fließen Tränen oder ein breites Lächeln lässt die Gesichter strahlen. Die Szene beschreibt einen Workshop mit männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden in der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin-Plötzensee. Die Teilnehmer haben vieles gemeinsam: Sie haben überwiegend Migrationserfahrung, haben ihre ursprüngliche Heimat verlassen und sind in Deutschland mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie befinden sich altersbedingt in einer Suchbewegung, schauen sich nach Halt und Orientierung um und sind dabei für vermeintlich einfache Lösungen und Schwarz-Weiß-Denken empfänglich. Häufig haben sie Gewalt in ihren Heimatländern, in der Familie oder auf der Flucht erlebt, sind gelegentlich auch traumatisiert oder haben das Gefühl, in der Gesellschaft keine Anerkennung zu finden. Trotz ostentativ zur Schau gestellter Überlegenheit und Selbstsicherheit sind ihre Identitäten häufig angeknackst und zerbrechlich. In den letzten Monaten standen häufig ihre Fehler und Defizite im Vordergrund, und eine tiefe Frustration hat vom einen oder anderen Besitz ergriffen.

Erzählen von Geschichten hat lange Tradition

Mit den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln und der Unterstützung der PädagogInnen fassen sie ihre Lebenswege in Worte und bringen sie zu Papier. Ibrahim erzählt von seiner letzten Erinnerung, bevor er seine Heimat Somalia verlassen hat. Seine Mutter hat einen Rucksack für ihn gepackt. Darin waren Klamotten, Geld, eine goldene Kette, ein Armband – und die Hoffnung, dass ihr Sohn in Europa Fuß fasst und Geld verdient, mit dem er die Familie unterstützen kann. Sie haben das letzte Geld für die Schlepper ausgegeben, die versprechen, den Sohn ins Paradies nach Europa zu bringen. Auf dem Mittelmeer fällt der Rucksack beim Klettern von einem Schlauchboot zum nächsten ins Wasser. Obwohl Ibrahim schwimmen kann, wagt er es nicht, ins Wasser zu springen und den Rucksack mit den Erinnerungen und dem Geld zu retten. Im hektischen Hin und Her hätte ihn niemand mehr ins Boot zurückgezogen, er wäre verloren gewesen.

Das Erzählen von Geschichten hat eine lange Tradition in fast allen Kulturen. Sie bildet das Herzstück des Projektes Zwischen Welten. Die DozentInnen lassen die Jugendlichen frei reden; sie sollen selbst entscheiden, was sie für wichtig halten und mitteilen möchten. Das Nachdenken über die persönliche Lebensgeschichte gibt der eigenen Biographie Vielschichtigkeit, Bedeutung und Emotionen zurück. Die jungen Männer beginnen im Erzählen zu verstehen, was ihnen widerfahren ist, was sie aktuell erleben, und entwickeln geleitet durch die Fragen der-DozentInnen Pläne für die nächsten Schritte in die Zukunft.

Omar ist kaum zu stoppen

Omar erzählt von seinem Vater, vor dem er zeitlebens Angst hatte. Er war der Grund dafür, dass er seine Heimat Nigeria verlassen hat. Er beschreibt ihn als cholerischen, aggressiven Menschen, der keinen Blick für seine Kinder und die Bedürfnisse seiner Frau hatte. Als die Mutter sich von ihm trennt und zu ihrer eigenen Familie zurückkehrt, übernimmt der Großvater eine zentrale Stellung in Omars Leben. Gemeinsam fliehen sie nach Italien, und dort beginnt der bisher glücklichste Abschnitt in Omars Kindheit. Er geht gerne zur Schule, liebt Geschichte und hasst Mathematik. Er spielt erfolgreich Fußball und übernimmt Verantwortung in der Familie. Erst als der Großvater stirbt und die Mutter mit den Kindern und der Berufstätigkeit überfordert ist, kommt das brüchige Glück ins Wanken. Er macht sich alleine auf den Weg nach Deutschland, ins Paradies, so glaubt er damals.

Wenn Omar erzählt, ist er kaum zu stoppen. Die Worte sprudeln mal in klaren Sätzen, mal völlig zusammenhanglos aus seinem Mund. Er nimmt die anderen Personen im Raum nicht mehr wahr, reagiert nicht auf Nachfragen. Wenn sein Redeschwall endet, seufzt er und schaut die Dozentin, die ihm gegenübersitzt, erwartungsvoll an. Jetzt kommt es darauf an, dass die DozentInnen das Zurückschauen strukturieren und stabile, anschlussfähige Phasen oder Erlebnisse im Leben der Jugendlichen aufgreifen. Durch die Rückbesinnung auf diese Ereignisse entsteht eine positive Atmosphäre. Sie ist die Grundlage dafür, frühe Erfahrungen zu erinnern und das zu entdecken und zu bewahren, was ein Schlüssel für die Bewältigung der Gegenwart sein kann. Welche Kompetenzen bringe ich mit? Welche Ressourcen schlummern in mir? Wer bin ich? Wer will ich sein? Was kann ich tun? Was hat mich zu der Person gemacht, die ich aktuell bin? Auf was kann ich stolz sein? Was möchte ich ändern?

Überraschung über eigene Geschichte

Um den Prozess des Erzählens nicht zu unterbrechen, nutzen die DozentInnen die Methode des stellvertretenden Schreibens. Sie versuchen also, möglichst unverfälscht mitzuschreiben oder in Stichworten zu notieren, was die Teilnehmer berichten. Nachdem sie ihre Notizen bearbeitet haben, werden die entstandenen Text dem jeweiligen Teilnehmer vorgelesen, mit ihm besprochen und gegebenenfalls verändert oder ergänzt. Spannend ist die erste Frage, die ganz häufig voller Erstaunen gestellt wird: ,,Was, das habe ich erzählt? Cool!“ Diese Überraschung über die eigene Geschichte, die Freude über die eigenen Worte und der Stolz auf die eigenen Texte eröffnen neue Spielräume, um die Integrität der Identität wieder aufzubauen und den Selbstwert zu steigern.

Seinen Höhepunkt findet dieser Aspekt der Biographiearbeit in den Ausstellungen und Präsentationen des Projektes, also dann, wenn die Geschichten mit einem Publikum geteilt werden. Hier treffen die Teilnehmer auf ZuhörerInnen, die sich für das interessieren, was sie zu erzählen haben. Sie schenken ihnen Beifall für einen Ausschnitt aus ihrem Leben. Mit dem Applaus erleben sie, dass andere wertschätzen, dass sie sich kritisch und reflektiert mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, dass sie ihr Ver- halten infrage stellen und ihr Ich Stück für Stück neu definieren. Das stiftet Sinn und ebnet den ersten Schritt auf der Brücke in eine straffreie Zukunft.

Mohammad, ein Teilnehmer des ersten Moduls von ZwischenWelten, besucht auch weiterhin in regelmäßigen Abständen die Workshops außerhalb des Gefängnisses. Stolz zieht er dann sein kleines schwarzes Notizbuch hervor, in dem er seine Texte sammelt. ,,Das habe ich von euch gelernt“, sagt er grinsend. ,,Es tut so gut, sich alles von der Seele zu schreiben, was einen fertig macht.“ Obwohl er mittlerweile zwei Jahre straffrei ist und sein Deutsch sehr gut geworden ist, hat er immer noch keine Möglichkeit, legal zu arbeiten. Er ist in seiner neuen Heimat geduldet, gehört aber nicht wirklich dazu.

Birgit Lang, ZwischenWelten, Seite 6 – 10

 

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