Ob es noch jemanden interressiert, dass sich die deutschen Bischöfe in Fulda zur Herbstvollversammlung treffen? Die Medien verfolgen dies, weil es in den letzten Monaten und Jahren mit der Aufarbeitung des Sexuellen Missbrauchs sowie dem angemahnten Reformstau in der Katholischen Kirche kontroverse Dikussionen gibt. Mehr noch, es treten immer mehr KatholikInnen aus der Kirche aus. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, triftt es in seiner Eröffnungsrede auf den Punkt. Doch ob daraus glaubwürdige Versöhnungsschritte mit echten Konsequenzen folgen? Zumindest den Worten nach…
Neulich in Wiesbaden: Die Mittagspause während der Visitation nutze ich für einen Spaziergang durch die belebte Fußgängerzone der Kurstadt. Ich habe mir ein Eis gegönnt, was einen Straßenbettler zum freundlichen Kommentar animiert: „Das sieht aber cool aus.“ Einige Menschen erkennen ihren Bischof und grüßen freundlich oder sprechen mich an. In einer Gasse kommt mir ein junges Paar entgegen, und im Vorübergehen lässt der Mann eine Bemerkung fallen: „Wollen Sie uns jetzt von unseren Sünden erlösen?“ Kein Anhalten, keine Gelegenheit zur Antwort. Das war’s. Aber die Frage sitzt. Offenbar rufe ich – als Priester kenntlich – Assoziationen wach: rudimentäres religiöses Wissen, klischeehaft vorhanden und doch nicht fernab von unserer Kernbotschaft; spöttelnd und mit zynischer Distanz ausgesprochen, nicht sehr neugierig, eher mitleidsvoll: „Wollen Sie uns jetzt von unseren Sünden erlösen?“ Wäre die Frage ernst gemeint, was würde ich antworten? „Ja, da ist was dran. Und: Nein, das kann ich nicht. Sie verwechseln den Boten mit dem Erlöser. Der meint es aber gut mit Ihnen: ‚Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen‘ (2 Kor 5,20).“
Kirche ist nicht Erlöser
Die Szene ist für mich in mancher Hinsicht beispielhaft. Denn an ihr ließen sich paradigmatisch Elemente wachsender Distanz zwischen Evangelium und Kultur verdeutlichen, die immer tiefere Kluft, die Verständigung erschwert und evangelisierende Impulse ins Leere laufen lässt, wenn sie die Prägung der Menschen nicht wirklich ernst nehmen und dort anknüpfen. Wir reden und laufen im wahrsten Sinn aneinander vorbei. Heute, vor dem Hintergrund der Berufung des Apostels Matthäus, interessiert mich ein Detail dieser glücklosen Kommunikation auf der Straße. Dem inneren Widerstreben des jungen Mannes liegt auch eine Verwechslung zugrunde.
Die Kirche ist nicht der Erlöser. Wir sind nur Zeichen und Werkzeug. Ganz offensichtlich aber gibt unser Habitus des Auftretens Menschen einer durch und durch freiheitlich geprägten Gesellschaft Anlass, unser Angebot als anmaßend und übergriffig und angesichts des Missbrauchs obsolet zurückzuweisen. Und für mich ist unstrittig: Wir selbst haben nicht wenig zu solcher Verwechslung und damit zum Misslingen evangelisierender Kommunikation beigetragen. Die Themen, die das aufzeigen, liegen alle auf dem Tisch des Synodalen Weges. Und ja, wenn wir über Macht und Gewaltenkontrolle in der Kirche, über eine neue Kultur von Leitung und Priestersein, über Frauen in Diensten und Ämtern strittig diskutieren und über den Wert einer orientierenden Morallehre, dann braucht es den Geist und den Mut zur Umkehr. Kehrt um! Denkt neu! Das ist in der Tat mehr und anders als bloß etwas Anpassung und Fortschreibung. Aber alles darunter wird der Wucht des auslösenden Skandals und der Dramatik der Entkirchlichung nicht gerecht.
Sünder im Apostelamt
Wir, liebe Brüder im Bischofsamt, sind die Nachfolger einiger großer Sünder, die der Herr ins Apostelamt berufen hat. Alle unsere Charismen sollen wir einbringen ins kollegiale Miteinander. Und wir können gar nicht anders als uns selbst mitzubringen. Doch die Berufung zum bischöflichen Dienst erfordert grundlegend auch – und vermutlich immer und immer wieder sehr persönlich, das hinter uns zu lassen, was gottlos, sündhaft, ungeistlich und für Gemeinschaft undienlich ist. Ich packe mich an meiner eigenen Nase: Von wo muss ich aufstehen und weggehen, um ins Kollegium der Apostelnachfolger eingefügt zu werden? Ich stelle mir diese Frage oft, und ich weiß, dass es dabei nicht um Lappalien geht.
Dafür steht die Berufung des Matthäus. Die des Paulus, des Petrus, eines Augustinus und vieler Frauen und Männer in der Kirchengeschichte legen eine Grundstruktur der Absicht Jesu offen. Jesus wählt nicht selten „Menschen mit Vergangenheit“. Wen er zu einem Auftrag in der Kirche bestellt, der soll die Erfahrung kennen, neu geschaffen und von Gott berührt zu sein. Matthäus, Mattatjahu bedeutet wohl nicht umsonst: von Gott gegeben, Geschenk Gottes.
Wenn Jesus sich mit Zöllnern und Sündern umgibt und aus diesem Kreis Menschen beruft, dann ist nicht Mitleid das Motiv. Hier geht es um etwas anderes als um die Hinwendung zu den Armen und Kranken. Jesus legt den Finger in die Wunden von Unrecht, Rücksichtslosigkeit, praktischer Gottlosigkeit.
Nicht nur aus Liebe zu Randgruppen
Dafür steht „der Zöllner“: Unbeliebt und unglückselig kollaboriert er mit den Ausbeutern des Landes; arbeitet Seite an Seite mit den Heiden; ist gleichzeitig durch drückende Verträge geknebelt, Ausgepresster und Auspresser zugleich, ein Typ, wie er heutzutage in Drückerkolonnen zu finden ist. Wenn Jesus einen solchen Typ in seine Nachfolge beruft, dann geschieht das nicht zuerst aus Liebe zu Randgruppen, sondern zeigt die göttliche Macht des berufenden Jesus. Ein Wort von ihm – und Matthäus steht auf. Ein Wort – und er wird geheilt von seiner notorischen Ungerechtigkeit und Ehrlosigkeit. Ein Wort – und alles wird neu: Das kann nur Gott. Nur bei ihm ist kein Ding unmöglich. Als der Herr Menschen mit einer solchen (Glaubens-)Biografie in den Zwölferkreis berufen hat, da hat er sehr gezielt Fundamente für seine Kirche geformt: Nur solche, die es selbst erfahren haben, begreifen vermutlich, wozu Gott in seiner erbarmenden Liebe fähig ist.
Sündhafte Strukturen
Nur solche haben Augen und das nötige Gespür, wie erbarmungslos sündhafte Strukturen in der Kirche Menschen mitsamt ihrem Glauben verletzten und an Gottes Liebe zweifeln lassen. Nur solche ahnen, wie tief Gott gründen und wie viel er drangeben muss, um dem, was wir durch unsere Schuld zunichtemachen, einen schöpferischen Anfang entgegenzusetzen, der uns und viele zur Ehre und Freiheit von Kindern Gottes herausruft. Kirche ist keine Veranstaltung von Menschen mit weißer Weste für solche, die es von uns erst lernen, es kapieren und annehmen müssten, was es bedeutet, erlöst zu werden. „Wollen Sie uns jetzt von unseren Sünden erlösen?“ Nein, das steht uns nicht zu, wir können es auch nicht. Aber hier in Fulda könnten wir Ihnen erzählen, wie wir Jesus erleben dürfen, wie er uns berührt und gerufen hat – und wie wir aufstehen, zusammenkommen, beraten und streiten, planen und entscheiden, um diesem Jesus Raum zu geben und ihn zum Leuchten zu bringen: Denn er ist das Licht der Völker. Wir sind – und das nicht einmal gut geübt und oft ungeschickt – nur Zeichen und Werkzeug.
Dr. Georg Bätzing | Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Eröffnungsgottesdienst zur Herbst-Vollversammlung am 21. September 2021 in Fulda