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Wider die Moralisierung Gottes. Das „Wenn-Dann“ durchbrechen

22. Juni 2022

Nicht nur mit den Missbrauchsfällen in den Kirchen, aber da abgründig und endgültig, haben Menschen massenweise ihr Vertrauen in Menschen, die in Kirchen verantwortlich sind, verloren. Der Absturz erfolgte von einer schwindeligen Höhe in eine horrende Tiefe. Die damit verbundene Enttäuschung wird durch die paradoxe Kommunikation zwischen moralischen Reden und unmoralischer Praxis verschärft.

Diese Verlogenheit tritt hier besonders brisant und schmerzlich zutage, ist aber nur die Spitze vom Eisberg, von einem Eisberg, der Gott in der Moralisierung erstickt hat, in einer Wenn-Dann-Struktur, die denen dient, die mit dieser autoritären Struktur Menschen bis in die kapillaren Bereiche hinein abhängig und gefügig machen. Dies ist kein religionskritischer Allgemeinplatz, sondern leider tausendfach singuläre Erfahrung. Man möchte fast wünschen, die betroffenen Menschen hätten „Gott“ lieber anderswo als in den Kirchen suchen sollen und erfahren können. Jedes Anderswo oder Nirgendwo wäre besser gewesen. Bevor eine solche vom geistigen, geistlichen und leiblichen Missbrauch bestimmte Pastoral realisiert wird, sollte man lieber überhaupt keine Pastoral verwirklichen, dann ist es richtiger, nur die Liturgie zu feiern und den Menschen über diese Feier Trost in ihrem Leben zukommen zu lassen. Dann blieben die Menschen wenigstens vor der paradoxen Kommunikation verschont, in der in den Sakramenten etwas gefeiert wird, was dann ohnehin in der Menschenbeziehung wieder entzogen und konterkariert wird. Das Sich-um-Menschen-Kümmern ist also hochambivalent!

So war bereits die Erfindung der Pastoraltheologie nicht unschuldig, vertrat sie doch mit ihrem Ursprung, im Reformprojekt des Theologiestudiums, wie es Stephan Rautenstrauch (1734–1785) in der österreichischen Donaumonarchie unter Kaiserin Maria Theresia verfolgt hat, ein von oben nach unten reguliertes Bildungskonzept, verbunden mit harschen Regulierungen, die das Verhältnis von Sakrament und Handeln, von Gnade und Leben als Bedingungsverhältnis reglementiert haben.

Nacht Gottes?

Katastrophal war und ist solche Pastoral für viele Menschen, aber weniger für „Gott“ als die meisten es annehmen. Denn es ist tatsächlich höchste Zeit, diesen Gott, wie ihn etliche in den Kirchen vermittelt haben und vermitteln, hemmungslos zu verdunkeln, dass er möglichst nicht mehr zur Erscheinung tritt. Die ewige Nacht ist genau das Richtige für ihn, da soll er bleiben und zugrunde gehen. Selbstverständlich gab es für die religiöse Selbstunterwerfung Gratifikationen. Aber das sind Löhne, wie sie die Welt gibt, auch wenn sie über den Tod hinaus projiziert werden. Auch Jesus war von solchen Zugriffen nicht gefeit. Der Mensch, der/die kein Öl in der Lampe hat, wer schlecht verwaltet hat, wer die Talente vergraben hat, hat alles verspielt. Vor allem: wer nicht richtig geglaubt hat! Und wer böse war, wer mit den Armen nicht geteilt hat, kommt nicht in Abrahams Schoß, sondern wird in die ewige Lieblosigkeit der Hölle gestoßen.

Ein totalitär dualistisches System, das mit der Vorstellung der Unendlichkeit der Gnade eines geheimnisvoll unerschöpflichen Gottes absolut nicht kompatibel ist. Nicht dass es kein Gericht gäbe, aber das ist es ja: der wirkliche Schmerz kann sich nur in der Liebe ereignen, außerhalb ist er sinnlos und reiner Sadismus. Wenn ich hier von Liebe rede, dann meine ich diese nicht läppisch, sondern es ist eine Liebe, die mit ungeheurer, nicht vorstellbarer Wucht auf alles Lieblose trifft und seine Täter und Täterinnen zur Verantwortung zieht, allerdings niemals außerhalb dieser Liebe, sondern in ihr und in dem in ihr spürbaren unendlichen Schmerz (vgl. Fuchs 2018).

Andersräume

Aber es gab und gibt auch Durchbrüche in Kirchen, wenn in ihnen verantwortliche Menschen dieses Wenn-Dann durchbrechen – oft genug gegen die Strukturen ihrer eigenen Kirchen. Die die Gnade größer sein lassen als die Bedingungen, die die Drohungen zurücknehmen und Gott zutrauen, dass Gott mit uns in Freiheit und Liebe umgeht, und dass sich beide in ihm ewig gegenseitig ermöglichen. Martin Luther hatte diese Erfahrung, hatte sie dann doch wieder in seinem Heilsausschluß gegenüber den nicht an Christus Glaubenden verraten (vgl. Bultmann). So gibt es immer einige Schritte vorwärts, aber das semper maior, das Unbegrenzbare der Gnade wird selten geschichtlich anvisiert. Es gibt immer welche, die nicht dazugehören, weil das Dazugehören von Bedingungen abhängig gemacht wird. Was also zu lernen wäre, ist die Entdualisierung des christlichen Glaubens, nicht in dem Sinn, dass es nicht gute und böse Menschen gäbe, sondern in dem Sinn, dass es einen Gott gibt, aus dessen Liebe und Freiheit niemand herausfällt, aber nicht billig, nicht einfach so, als wäre nichts geschehen (vgl. Fuchs 2017). Dies ist keine instrumentalisierbare Drohung, sondern die Ernstnahme der Macht der Liebe für die Menschen selbst und ihre „Vollendung“. Auch wenn wir uns diese unendliche Verbindung von Liebe und Freiheit, von Sühne und Glückseligkeit nicht vorstellen können.

Andere spirituelle Haltung

Es gibt keinen Dualismus zwischen Himmel und Hölle, sondern es gibt „nur“ die entscheidenden Unterschiede im „Himmel“ zwischen schmerzlicher und weniger schmerzlicher Sicht auf das eigene Leben im Diesseits. Die Begründung autoritärer Strukturen ist mit einer solchen Gottesverkündigung nicht mehr kompatibel. Nur mit einer radikalen Entmoralisierung Gottes und von daher geprägten Seelsorge kann wieder Vertrauen und Hoffnung aufkommen. Auch Hoffnung gegen den Augenschein: denn darin gibt es eine andere Dunkelheit Gottes, eine von Gott selbst zu verantwortende, wenn er denn wenigstens im Kern als Ewigkeit von Liebe und Freiheit erhofft wird. Darin liegt auch die Ermöglichung, ihn in dieser Freiheit angstfrei daraufhin anzuklagen und zur Rechenschaft zu ziehen, warum wir diese Welten nicht restlos als Liebe erfahren werden können. Warum es das Leid gibt, von Menschen zugefügt, aber auch all das andere Leiden von Mensch und Schöpfung.

Je mehr die moralisierende Verdunkelung Gottes zurückgenommen wird, desto mehr können die Menschen sich selbst die Freiheit nehmen, Gott infrage zu stellen, einen solchen Gott für sich selbst abzulehnen und überhaupt auf ihn zu verzichten. Auch dies kann ein Vollzug jener Freiheit und Liebe sein, die eine solche Vorstellung von Gott nicht nur erlaubt, sondern mit der entsprechenden Dynamik beschenkt.
Aller Fundamentalismus der Religionen und vor allem der christlichen zerfließen hier, weil es hierfür keine „Voll“-macht mehr gibt, denn die gäbe es nur, wenn der jeweilige Glaube zur Bedingung der Liebe Gottes und der Rettung gemacht würde. Nur damit kann man gegen die Anderen hantieren und spirituellen, psychischen und physischen Machtmissbrauch nach innen mobilisieren und legitimieren. Und Sexualität ist der heikelste Raum von Herrschaft (vgl. Ammicht-Quinn).

Hausgemacht und Hausveränderbar

Genau dies ist die hausgemachte Verdunkelung, die Nacht Gottes in der Seelsorge und Verkündigung der Religionen und nicht zu knapp auch der christlichen Kirchen. Dass es sich bei diesem Gegensatz von exklusivem Heilsbesitz und ausgrenzendem Heilsverlust um kapitalistische Besitzverhältnisse handelt, liegt auf der Hand. Es wird höchste Zeit für einen demokratisierten Heilsradius, analog dazu, wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty die Veränderung der Besitzverhältnisse in den Blick nimmt (vgl. Piketty). Autoritäre Strukturen haben eine kapitalistische Seele. Gegenwärtige soziologische Gegenmodelle berufen sich dagegen überraschenderweise auf die Kategorie der Gnade, um auch in diesem Bereich die zerstörerischen Verdunkelungen der menschlichen Beziehungen aufzuhellen (vgl. Adloff). Im Anschluss an das Gedicht Der Ball des Gehorsams von Madeleine Debrêl bringt Rainer Bucher den grundlegenden Widerspruch auf den Punkt: „Der Kapitalismus ist die ‚gewinnorientierte Verwaltung der Welt‘, das Christentum die Aufforderung zum Tanz in den Armen von Gottes Gnade. Einen größeren Gegensatz gibt es nicht“ (Bucher, 139).

Wie man in US-amerikanischen Ländern angesichts ihrer rassistischen Gewalttaten eine völlig neue Konzeption und Struktur der Polizei braucht, benötigt die Kirche eine völlig neue pastorale Praxis und Struktur der Gottesvorstellung genauso wie der Menschenbeziehung. Es geht um den Homo donator, um den gebenden Menschen, und vorgängig dazu, und genau dies wäre die pastorale Domäne, um den Homo donatus, um den um den Glauben an einen solidarischen Gott nicht betrogenen, sondern beschenkten Menschen. Um die Erfahrung grundsätzlicher und grundlegender Vorgegebenheit von Liebe und Freiheit. Das Kreuz zeigt, dass in Christus der unendliche Gott des Universums die leidvolle Welt berührt. Das ist die entscheidende Begründung des christlichen Gottesglaubens. Alle Bedingungen werden hier zerbrochen. Der Weg ist frei.

Prof. em. Dr. Ottmar Fuchs

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Ottmar Fuchs war von 1998 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2014 ordentlicher Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Fuchs studierte Philosophie und Theologie an den Universitäten Bamberg und Würzburg. Nach der Priesterweihe 1972 arbeitete er als Kaplan in der Pfarrei St. Michael in Nürnberg sowie als Studentenpfarrer und Mentor für die LaientheologInnen in Bamberg. 1977 promovierte er beim Pastoraltheologen Rolf Zerfaß an der Universität Würzburg mit der Dissertation Sprechen in Gegensätzen. Meinung und Gegenmeinung in kirchlicher Rede.

1981 folgte die Habilitation für Pastoraltheologie, ebenfalls in Würzburg. Zum Wintersemester 1981/82 wurde er ordentlicher Professor für Pastoraltheologie und Kerygmatik in Bamberg. 1998 wechselte er auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, wo er von 2000 bis 2004 das Amt des Dekans der Katholisch-Theologischen Fakultät bekleidete. Im Frühjahr 2021 bekannte er: „Für mich persönlich war und ist der Übertritt zur altkatholischen Kirche eine wachsende Versuchung.“

 Literatur

Adloff, Frank, Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben, Hamburg 2018.
Ammicht-Quinn, Regina (Hg.), „Guter“ Sex: Moral, Moderne und die katholische Kirche, Paderborn 2013.
Bucher, Rainer, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg 2019, 139.
Bultmann, Christoph, Das Wittenberger christlich-jüdische Kontroversgespräch 1526 und Luthers Betrachtung der Juden, in: Michael Gabel, u. a. (Hg.), Religionen in Bewegung, Münster 2016, 143-196.

Fuchs, Ottmar, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018.
Fuchs, Ottmar, Rechtfertigungstheologie: differenzverschärfende Umfangung aller Differenz, in: Theologische Quartalschrift 197 (2017), H. 3, 235-256.
Piketty, Thomas, Kapital und Ideologie, München 2020.

 

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