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Wenn der Apfel weit vom Stamm fällt… Vielfalt achten

9. November 2022

Alok Vaid-Menon will mit dem Motto „Mehr als binär“ liebevoll einladen aus der Sackgasse des Dualismus zu einer wertschätzenden Vielfalt zu kommen. Alok, eine nichtbinäre Person aus den USA, veröffentlicht Bücher und führt Performance-Kunst durch. Menschen mögen vielleicht die Existenz von gendernonkonformen Menschen tolerieren, aber Toleranz ist einfach nicht dasselbe wie Akzeptanz. Andrew Solomon greift dies in seinem Buch „Weit vom Stamm – wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind“ klar und mitfühlend auf.

Bei Toleranz wird immer eine gewisse Distanz gewahrt: „Da geht es um etwas, das weit entfernt von mir ist und nichts mit mir zu tun hat.“ Akzeptanz bedeutet hingegen, die Unterschiedlichkeiten in dein eigenes Leben zu integrieren: „Da geht es um etwas, von dem ich ein Teil bin, und ich möchte mehr darüber lernen, um besser helfen zu können.“ Wirkliche Akzeptanz kann im ersten Moment unangenehm sein, vor allem deswegen, weil es Arbeit bedarf. Diese Arbeit geschieht gerade in der Kirche: queere Menschen nicht nur zu tolerieren, sondern zu akzeptieren als wesentliche Bereicherung – also zu integrieren, um wirklich in Vielfalt leben zu können. Dass dies tatsächlich eine Herausforderung ist, die an die Wurzeln des Selbstverständnisses und an die eigene Identität geht, macht  Andrew Solomon in seinem Buch „Weit vom Stamm – wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind“ klar und mitfühlend deutlich.

Kinder entwickeln sich oft anders

„Es gibt keine Reproduktion“, sagt er, denn obwohl viele Eltern sich selbst mehr oder weniger unbewusst in ihren Kindern vervielfältigen wollen. Dies verstanden als im selben Verständnis von Glück, Wohlstand, „richtiger“ Familie, eine „Frau“ sein, ein „Mann“ sein, entwickeln sich Kinder nicht selten überraschend anders als im Familienglück-Bild der Eltern vorgesehen. Solomon unterscheidet dazu hinsichtlich der angeborenen und erworbenen Merkmale die vertikale und die horizontale Identität: erstere bezieht sich z.B. auf die Hautfarbe inklusive der entsprechenden Selbstwahrnehmung der Person, Sprache, manchmal auch religiöse Prägung, Nationalität etc., die zweite meint genetische Differenzen, zufällige Mutationen, vorgeburtliche Einflüsse oder Werte und Vorlieben, die von den Eltern nicht geteilt werden. Dazu gehört z.B. die Homosexualität. „Vertikale Identitäten werden gewöhnlich als Identitäten akzeptiert, horizontale Identitäten als Makel betrachtet“, sagt Andrew Salomon. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, sagen wir, und sehen unsere je eigenen Vorstellungen in den Kindern verwirklicht – das Leben aber zeigt, dass der Apfel oft genug „weit vom Stamm“ entfernt liegt.

Es geht um Glaubwürdigkeit

Im traditionellen kirchlichen Kontext herrscht, wie in vielen Familien, die Vorstellung vom Kinder bekommen als Reproduktion vor. Die Werte der Eltern bzw. der Kirche sollen vererbt werden, damit sie gültig bleiben – das aber führt in jenen Dualismus von Andersartigkeit und Identität, der so lange unheilvoll ist, wie er nicht durch akzeptierende Integration überwunden wird. Im religiösen Bereich wird dann entsprechend eine Engführung biblischer Aussagen zur Hilfe genommen, indem die eigene dualistische Sicht des Entweder-Oder der biblischen Weitsicht und Weisheit übergeholfen wird, bis von ihr nichts mehr zu spüren ist. Ich denke, wir haben kirchlich, aber wohl auch gesellschaftlich trotz vieler Fortschritte noch einen weiten Weg, einander in der Vielfalt unserer Lebensweisen achten und lieben zu lernen. Das lässt vielleicht etwas gelassen sein, wo Probleme auftauchen, denn es geht schließlich um Identität – und mutig, auf dem Weg zu bleiben, denn es geht um Glaubwürdigkeit.

Christoph Kunz

Zum Weiterlesen empfohlen

Alok Valid-Menon, Mehr als binär
Andrew Salomon, Weit vom Stamm

 

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