Nickolai lehrte 30 Jahre bis 2020 Soziale Arbeit und Straffälligenhilfe an der Katholischen Fachhochschule (KFH) Freiburg/Breisgau. Davor arbeitete er 15 Jahre als Sozialarbeiter in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim (Baden-Württemberg). Als ehemaliger Sozialarbeiter in der Straffälligenhilfe ist er mit der Praxis vertraut, als späterer Hochschullehrer mit der wissenschaftlichen Forschung. Das spürt man Seite für Seite in den hier als Sammelband vorgelegten früheren Veröffentlichungen: Hier werden nicht nur Praxisberichte vorgelegt, sondern wissenschaftlich fundierte Reflexionen einer langjährigen Tätigkeit.
Auch wenn auch die ältesten Beiträge aus den 1990er Jahren stammen, so haben sie nichts an Aktualität eingebüßt und spiegeln den Stand der Forschung aus Kriminologie und Pädagogik. Die Veröffentlichungen wurden in unterschiedlichen Formaten publiziert, sind daher im Stil nicht einheitlich und weisen da und dort (zum Teil) wörtliche Wiederholungen auf. Das macht den Band jedoch nicht weniger lesens- und empfehlenswert. Dass in die Einleitung und in weiteren Passagen biographische Notizen eingeflossen sind – nicht zuletzt seine Erfahrungen als „Heimkind“ – sind eine Bereicherung. Es war wohl wirklich ein „Glück“, dass er als 14jähriger Mitte der 1960er Jahre in das Christophorus Jugendwerk in der Nähe von Freiburg „verlegt“ wurde (die Formulierung ist wohl 15 Jahre Arbeit im Vollzug geschuldet), wo er Personen begegnen konnte, die ihn nachhaltig „beindruckt, überzeugt und geprägt“ haben (8) bis hin zu seiner Berufswahl Sozialarbeit. Was er selbst erlebt hatte, wurde für ihn leitend und kommt im Buchtitel zum Ausdruck: „Versöhnen statt strafen – integrieren statt ausgrenzen“ in Anlehnung an die Leitlinien der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe im Deutschen Caritasverband KAGS (9). Dieses Anliegen liegt auch Nickolais Kritik am Strafvollzug zugrunde, wenn er hauptsächlich bemängelt, dass hier das eigentliche Ziel „Erziehung“ weitgehend der „Sicherheit“ geopfert wird. Schon strukturell mache der Vollzug Erziehung eigentlich unmöglich. Konsequent fordert er die Abschaffung des Jugendstrafvollzuges (9 u.a.) und plädiert stattdessen für eine „akzeptierende Sozialarbeit“ (33ff), die die Person des Täters in den Blick nimmt und nicht die Tat in den Mittelpunkt stellt. Die Sanktionsforschung (19ff) konnte zur Genüge belegen, dass Strafen – insbesondere freiheitsentziehende – ins Leere zielen, dass Resozialisierung weitgehend nicht möglich ist, sondern im Gegenteil eher kriminelle Karrieren verfestigen.
Mühsame Arbeit
„Akzeptierende Sozialarbeit“ vermag und muss auch Grenzen setzen können. Das steht außer Frage, aber sie setzt vornehmlich auf Vertrauens- und Beziehungsarbeit. Nicht Moralisieren, Belehren und Befehlen, sondern vor allem das gemeinsame Tun und Erleben fördern ein eigenverantwortliches Leben. Insbesondere „Sport und erlebnispädagogische Wochen“ erweisen sich als hilfreich und zielführend, sie „ermöglichen eine Beziehung, wie sie in der Anstalt kaum möglich sind“ (10) – und das auch im Erwachsenenvollzug (vgl. 42).
Vier Teile umfasst das Buch:
A Straffälligenhilfe, B Strafvollzug, C Sozialarbeit und Nationalsozialismus, D Gedenkstättenpädagogik.
Die beiden letzten Teile lassen einen Schwerpunkt Nickolais Arbeit erkennen. Da ist zum einen die eigene Auseinandersetzung mit der Sozialarbeit im Nationalsozialismus, dann aber auch die mit rechtsextremistischen Jugendlichen im Vollzug und vor allem seine Erfahrungen mit dieser Zielgruppe (Glatzen, Skins) und anderen benachteiligten Jugendlichen und Heranwachsenden in Auschwitz (vgl. 87-130). Die Besuche und Einsätze dort konnten eher – wenn auch langsam und eher langfristig – Einstellungsveränderungen bewirken als beispielweise politische und moralische Bildung. Eine mühsame Arbeit, deren Langzeitwirkung bislang zwar nicht ausreichend erforscht sei, aber vielversprechende Ansätze zeigt – besser als der Vollzug, der so gut wie nichts erreicht, allemal. Denn dieser reagiert nicht „auf die Probleme, die Jugendliche haben, sondern auf die Probleme, die sie machen“ (17). Diese sind häufig die „Modernisierungsverlierer[n]“, denen prägende und orientierende Institutionen wie z.B. die Familie weitgehend fehlten. Einer „repressive[n] Kriminalpolitik“, „die in großen Teilen der Bevölkerung ihre Akzeptanz“ findet (18), will Nickolai unterstützende Angebote wie Familie, Schule und Jugendarbeit entgegensetzen, in denen Jugendliche die Anerkennung finden, die der Vollzug nicht bieten kann. Denn vielfach ist es ein schwaches Selbstwertgefühl, das jugendliche (Gewalt-)Täter versuchen lässt, „Ohnmachts- und Missachtungsgefühle“ in Gewalt oder andere Straftaten umzukehren (28). Aber gerade diese Gefühle und Erfahrungen werden im Vollzug eher gestärkt.
Grenzen von Konzepten
Außerhalb der Strukturen des Vollzugs durchgeführte Maßnahmen bringen daher ganz andere Chancen mit sich. Allerdings zeigt(e) sich, dass Einsätze (vgl. 41-50) bei der Rettungswacht, noch mehr Bergtouren, Kanukamps und dergleichen bei der Bevölkerung eher als Belohnung missverstanden und daher abgelehnt wurden. Dabei weiß man doch längt, dass gerade „Abenteuerlust“, „Nervenkitzel“, „Mutproben“ usw. Auslöser krimineller Handlungen sein (43) und mit erlebnispädagogischen Maßnahmen kanalisiert und dann bearbeitet werden können im Blick auf Verhaltensänderungen. Nickolai weiß wohl um die Grenzen solcher Konzepte: insbesondere die Rückkehr in den vollzuglichen Alltag mit seinen kontraproduktiven Implikationen stehen dafür. Und wenn auch die langfristigen Ergebnisse noch nicht hinreichend erforscht sind, bleibt doch der „Wert an sich“ (49), die – wenn auch punktuelle – Erfahrung: Es geht auch anders.
Aufsuchende Sozialarbeit
Sozialarbeit im Vollzug steht immer in der Spannung und Widersprüchlichkeit/Konfliktträchtigkeit zwischen den Erwartungen der Inhaftierten (Klienten) von Hilfe und denen des Staates von Kontrolle (79ff). Nickolai macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, dieses „Doppelmandat“ des sozialen Dienstes im Vollzug zu einem „Tripel-Mandat“ weiterzuentwickeln, das neben den Erwartungen von Inhaftierten und Staat einen dritten Erwartungshorizont mit einbezieht, das „professionelle[n] Selbstverständnis“ (79) und dann vor allem berufsethische Überlegungen. Rollenkonflikte sind hier nicht selten, insbesondere wenn SozialarbeiterInnen leitende Funktionen innerhalb der vollzuglichen Strukturen übernehmen. Eine Lösung des Dilemmas sieht er in der „Sozialarbeit als aufsuchende Sozialarbeit“, angeboten von externen freien Trägern, die auch der Verschwiegenheit gegenüber Anstaltsleitungen unterliegt (vgl. 83f). Werner Nickolai´s Überlegungen sind lesens- und empfehlenswert – nicht nur für SozialarbeiterInnen, auch für andere Professionen, vermögen sie doch wertvolle Impulse zu geben.
Simeon Reininger