Am 13. Februar 2018 hat sich die Psychologin Susanne Preusker suizidiert. Neun Jahre zuvor erlebte sie brutale Vergewaltigungen durch einen Häftling im Gefängnis von Straubing. Sie schrieb darüber ein Buch. Kurz vor ihrem Suizid sah sie sich die Verfilmung mit dem Titel “Sieben Stunden” an. Hatten ihr Vergewaltigungstrauma und der Film einen wesentlichen Einfluss auf ihre Suizidmotivation? Am 7. April 2009 wurde die Psychologin Susanne Preusker von dem Gefangenen Rudolf K. in der JVA Straubing als Geisel genommen und sieben Stunden lang vergewaltigt. Sie hatte den Täter mehr als vier Jahre regelmäßig sozialtherapeutisch behandelt.
Rudolf K. saß seit dreißig Jahren wegen Mord, Mordversuch und Vergewaltigung im Gefängnis. Bereits fünfzehn Jahre zuvor hatte er schon einmal mit einem anderen Gefangenen gemeinsam eine Geiselnahme während seiner Untersuchungshaft unternommen. Damals überwältigten sie einen Justizvollzugsbeamten. Susanne Preusker kannte Rudolf K. durch die vorhandenen Akten und durch zahlreiche Gespräche sehr gut. Sie hat ihm sogar eine positive Verlaufsprognose zugebilligt. Es sollte jedoch anders kommen.
Das Trauma als Riss und Abgrund im Leben
Vergewaltigung und sexueller Missbrauch zählen in der Traumaforschung zu jenen Traumaformen, die besonders eingreifend und zerstörerisch wirken. Sie führen zu Posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Traumafolgestörungen, weit häufiger als bei anderen Traumata wie Naturkatastrophen, lebensbedrohliche medizinische Situationen, Krieg oder Folter. Das Trauma durch Vergewaltigung ist wie ein ganz tiefer Riss in der Seele des Menschen. Von diesem Tag an ist alles radikal anders und nichts wird wieder so sein wie vorher. Es gibt also ein Leben davor und ein Leben danach. Ob in diesem Zusammenhang der Begriff „Traumabewältigung“ zutreffend ist und was er bedeuten kann, sollte also sehr sorgfältig abgewogen werden. Susanne Preusker hatte erfolgreich ein Studium der Humanwissenschaften abgeschlossen und war zuerst als Psychologin in einer psychiatrischen Klinik tätig, später in verschiedenen Justizvollzugsanstalten. Von 2004 an war sie in der JVA Straubing tätig, die als das „Hochsicherheitsgefängnis“ Bayerns gilt. Dort baute sie eine sozialtherapeutische Abteilung für männliche Sexualstraftäter auf und leitete dieselbe. Es schien fast so, als habe sie gerade eine Glückssträhne: beruflicher Erfolg, ihr Sohn David machte gerade das Abitur und mit ihrem Lebensgefährten war in zehn Tagen die Hochzeit geplant. Doch dann schlug das Vergewaltigungstrauma in ihrem Leben ein wie eine Bombe.
Das Leben danach
Nach der Geiselnahme und Vergewaltigung war alles anders. Die vorher sehr selbstbewusste, leistungsfähige und starke Frau, die Susanne Preusker bisher war, existierte nicht mehr: Sie war krank und hatte viele Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Im Vordergrund standen Panikattacken und Angstzustände sowie erhebliche Schreck- und Impulsreaktionen, wenn durch Sinneswahrnehmungen Bilder von der Vergewaltigung getriggert wurden. Die Traumaforschung nennt diese Intrusionen und Flashbacks. Susanne Preusker war jetzt Opfer, obwohl sie sich intuitiv sehr gegen dieses Wort wehrte. Gleichwohl kehrte sich jetzt die Rolle um: Nun war sie nicht mehr die Therapeutin, sondern die Hilfesuchende, die von einer anderen Psychotherapeutin Hilfe erhoffte. Lange war sie krankgeschrieben und bald stellte sich heraus, dass sie in ihrem alten Beruf als Gefängnispsychologin nicht mehr arbeiten konnte. Sie versuchte, das Erlebte zu verarbeiten und neue Lebensperspektiven zu entwickeln. In einem Buch schrieb sie ihre Geiselnahme und Vergewaltigung nieder. Etwa ein Jahr nach der Geiselnahme begann vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Regensburg der Prozess gegen den Täter Rudolf K. Der Gerichtsprozess und das geschriebene Buch sollten ihr Leben deutlich verändern.
Die Verwandlung im Gerichtssaal
Etwa zehn Monate nach ihrer Vergewaltigung fand im Februar 2010 der Prozess gegen Rudolf K. statt. Susanne Preusker trat dabei als Nebenklägerin auf. Sie hatte eigentlich vor, in der Verhandlung nicht öffentlich auszusagen. Erneut überraschte sie der Täter Rudolf K.: Er beantragt über seinen Anwalt den Ausschluss der Öffentlichkeit, damit seine Intimsphäre geschützt sei. Der Richter wollte dieses Ansinnen ablehnen, konnte es aber nur, wenn Susanne Preusker bereit ist, auch öffentlich auszusagen. Nach einer kurzen Verhandlungspause hat sie sich dazu durchgerungen, dies zu tun und damit dem Täter die öffentliche Konfrontation nicht zu ersparen. Dies war für sie ein großes Wagnis, das sie wie eine große Bewährungsprobe durchstand. Als sie dem Täter gegenübertrat, schaute sie ihn solange an, bis er wegsah. Dieser stumme Austausch der Blicke ohne jegliche Worte war wie ein Kampf: Wer hält dem Blick des anderen länger stand? Irgendwann blickte der Täter zu Boden.
Die Verarbeitung im Buch
Susanne Preusker hatte einen großen Sieg errungen und schrieb später in ihrem Buch, dass diese intensive innere Auseinandersetzung zu Prozessbeginn bei ihr zu einer großen inneren Wandlung geführt habe. Sie konnte sich ein Stück weit aus ihrer Opferrolle befreien und fühlte sich durch ihre Selbstbehauptung deutlich in ihrem Selbstwert gestärkt. Im Mai 2010 wurde Rudolf K. vom Gericht schließlich zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Insofern ist eine Freilassung des Täters nach verbüßter Strafe sehr unwahrscheinlich. Die Festlegung der Sicherungsverwahrung entlastete Susanne Preusker. Etwa ein Jahr nach dem Urteil veröffentlichte sie in der Zeitschrift „Focus“ einen Appell, der überwiegend an Richter, die Justiz und Beamte des Strafvollzugs gerichtet ist: Sie fordert: „Lasst sie niemals frei!“ und warnte vor zu viel Naivität und Optimismus bezüglich der Therapierbarkeit von Sexualstraftätern. Etwa eineinhalb Jahre nach dem Prozess erschien ihr Buch, in dem sie ihr Trauma zu verarbeiten versucht. In diesem Buch ist ein „Brief an den Täter“ öffentlich abgedruckt, von dem Susanne Preusker wollte, dass er Rudolf K. zugestellt wird. Er enthält die Botschaft, dass er ihr viel Leid zugefügt habe und sich ihr Leben durch seine Taten radikal verändert habe, dass es ihm aber nicht gelungen sei, sie letztlich zu zerstören. Dieses Dokument mutet an wie eine „trotzige Selbstbehauptung“. Es erinnert an das erste Buch, das von einem traumatisierten KZ-Opfer geschrieben wurde. Es stammt von dem Wiener Psychotherapeuten Viktor Emil Frankl, der wegen seiner jüdischen Herkunft im KZ war und dieses überlebte. Der Titel seines Buches lautet „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Diese Worte stammen aus dem sogenannten Buchenwald-Lied.
Der Film „Sieben Stunden“
Das Buch von Susanne Preusker diente als Vorlage zu einem gleichnamigen Film, der Anfang 2018 fertiggestellt wurde. Der Film wurde von dem erfolgreichen Regisseur Christian Görlitz gedreht, mit der hervorragenden Schauspielerin Bibiana Beglau in der Hauptrolle der Susanne Preusker. Die Bespechungen dieses Films sind durchwegs sehr positiv. Arno Frank schrieb im „Spiegel“: „Meisterhaft – und an der Grenze des Erträglichen“. Er sah in dem Film vier Dramen meisterhaft verwoben: ein Gefängnisdrama, das Gerichtsdrama, das Psychodrama und das Beziehungsdrama. „Bleischwer und verstörend“ beschrieb die Journalistin Laura Hertreiter den Film. Die Erstausstrahlung des Films erfolgte im September 2018 auf „Arte“, etwa zwei Monate später in der ARD. Beachtung fand dieser Film auch im Ausland. Die Journalistin Viola Schenz setzte in ihrem Beitrag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ große Hoffnungen in diesen Film: „Vielleicht kann dieser Film endlich für die Empörung sorgen, die ihr Schicksal verdient. Bei Gladbeck und München war das auch der Fall.“ Sie schätzt den Film als ein „exzellentes Gewalt- und Gerichtsdrama“ ein. Unerträglich findet sie die „Inkompetenz, ja fast mutwillige Ignoranz der Gefängnisleitung und des SEK.“
Literatur von Susanne Preusker
- Sieben Stunden im April. Meine Geschichten vom Überleben. Patmos Ostfildern 2011
- Lasst sie niemals frei! Focus, 16. Mai 2011
- Ich schreib einfach weiter – SMS eines Abschieds. Patmos Ostfildern 2017
Der Suizid
Anfang Februar 2018 hat Susanne Preusker noch gemeinsam mit dem Regisseur Christian Görlitz den Film „Sieben Stunden“ angesehen. Sie fand ihn sehr gut und gelungen. Als der Film Monate später im Fernsehen gezeigt wurde, lebte sie nicht mehr. Sie hat sich am 13. Februar 2018 das Leben genommen. Es ist kein Abschiedsbrief bekannt und in den Medien wird über die Beweggründe für diesen Suizid gerätselt. Manche Beobachter vermuten, der Film habe zu einer Reaktivierung des Traumas geführt. „Ihr Trauma trieb sie in den Tod“ – diese Formulierung findet sich in zwei ausführlichen Medienberichten über Susanne Preusker. Andreas Debski in der „Leipziger Volkszeitung“ und Dominik Staski im „Stern“ verwendeten diese Worte. Ob sie zutreffen wird wohl das Rätsel und Geheimnis von Susanne Preusker bleiben.
Prof. Dr. med. Herbert Csef | Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Würzburg
Mit freundlicher Genehmigung: tabularasa | Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur
2 Rückmeldungen
Ich kann auch nicht mehr gesund werden. Das Verbrechen wird nicht aufgearbeitet. Ich selbst bin schuld daran, dass mir dieses Verbrechen geschah. Selber schuld… Nur ich allein. Ich kann nicht mehr.
Eine sehr bewegende Straftat innerhalb der Mauern. Man kann es mit Worten nicht beschreiben, auch wenn es viele Worte gibt. Diese Verletztung äusserlich, aber vor allem innerlich ist für immer da. Wo ist da die Grenze zu setzen, den Häftlingen positiv zu begegnen oder kein Vertrauen Ihnen entgegen zu bringen, weil man voraussetzt, dass sie nicht zu therapieren sind? Es sind nicht alle Menschen gleich, aber Gesetze sind für alle. Das macht es schwierig. Ich bin sehr traurig für alle Menschen, die den Tätern helfen und dann selbst Opfer werden von Ihnen.