Unterwegs mit dem „Hacken-Porsche“ in Hildesheim

18. Oktober 2023

Die Sehenswürdigkeiten mit markanten Plätzen und geschichtsträchtigen Bauwerken an einem Ort zu entdecken, kann man am besten mit einer Stadtführung tun. So auch in der niedersächsischen Stadt Hildesheim, dem Tagungsort der Gefängnisseelsorge im Jahr 2023. Die bundesweit angereisten TheologInnen können mit einem sozial-kritischen Blick auf die Orte blicken, an denen Menschen kaum bemerkt werden: Im sozialen Brennpunkt am Hauptbahnhof, in der Parkanlage hinter dem Gebüsch oder in der Vinzenzpforte, einem Ort der Begegnung von Wohnsitzlosen und anderen Interessierten.

.

Los geht’s am Ottoplatz in der Hildesheimer Nordstadt. Die Führung streift über den Bahnhof und der Andreaskirche unterschiedliche soziale Einrichtungen und Treffpunkte wohnungsloser Menschen an. Der Soziale Mittagstisch „Vinzenzpforte“ der Vinzentinerinnen in Hildesheim bringt solche Soziale Stadtführungen an den Ort des Weltkulturerbes. „StreetSmart“ nennt sich das. GefängnisseelsorgerInnen der Studientagung im Michaeliskloster haben Interesse, diese Stadtführung mitzumachen. Am Ottoplatz stehen zwei der Führungsleiter da. Einer mit einem „Hacke-Porsche“, einem Einkaufstrolly, sowie einer mit einem Rucksack, bestückt mit einem großen Regenschirm. Claude Englebert, der mit der grauen Schirmmütze, ist Projektleiter und Sozialarbeiter. In Luxemburg war er lange Zeit als Künstler-Coach im „collectif dadofonic“, einer Theatergruppe von Menschen mit Beeinträchtigung, tätig. Dazu stellt sich Udo vor, ein noch in einer Wohnung lebender „Bürgergeld-Empfänger“, wie er sich selbst nennt. Er trägt eine rote Baskenmütze auf seinem Kopf.

In Notschlafstätte eingerichtet

An welchem Ort sich in Hildesheim das soziale Bermuda-Dreieck befindet, wollen sie den GefängnisseelsorgerInnen zeigen. Und vor allem zeigen, wie ein Freiluft-Wohnzimmer und ein Freiluft-WC aussieht. Am Hildesheimer Hauptbahnhof gibt es nämlich keine öffentlichen Toiletten. Schon seit Jahren gibt es dort Bauarbeiten. Man weicht in den Park aus oder versucht in einem der angrenzenden Hotels ein WC zu finden, das zugänglich ist. Über der Bahnbrücke gibt es einen ersten Halt. Hier befindet sich das Kulturzentrum und die Notschlafstelle. Daneben gibt es in Hildesheim die „Herberge zur Heimat“, einer Einrichtung für wohnungslos gewordene Menschen. Ein vorbeigehender Mann mit Zipfelmütze grüßt freundlich. „Das ist ein Bewohner der Stätte“, sagt Claude. „Schon länger schläft er jede Nacht dort. Er hat sich dort eingerichtet“, erzählt der Projektleiter der Vinzenzpforte.

Ideen für eine „Lohnaufbesserung“

Über die Parkanlage geht es weiter an den Tagestreff „Lobby“, einer Einrichtung der „Herberge zur Heimat“. An diesem Treffpunkt werden Übernachtungsplätze vermittelt, eine Waschmöglichkeit geboten oder medizinische Hilfe kann in Anspruch genommen werden. Es fängt an zu regnen. „Das ist Realität vieler Obdachloser, dass sie dem Regen ausgesetzt sind“ erzählt Udo. Er hat noch eine Wohnung, muss aber bald dort raus ein, erzählt er. Udo, der mit einem Tuch sein Kopf bedeckt, breitet seinen schwarzen Regenschirm aus. „Ich habe meinen Job aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen verloren“, führt er aus. Mit dem Pfandflaschen-sammeln sowie vom Verkauf kleiner Holzarbeiten in Form von Haftmagneten, verdient er sich etwas dazu. „Letzteres ist aber immer auf Spendenbasis und nicht ein gewerblicher Verkauf“, betont Udo. „Der Abfalleimer hier hat eine Pfandflaschen-Halterung“, so weist Udo die TeilnehmerInnen auf diesen nicht nur für ihn wichtigen Zustand hin.

Ausgezeichnetes Projekt

Den Abschluss findet die ungewöhnliche Stadtführung in der Vinzenzpforte (abgekürzt VIP) am Mutterhaus der Vinzentinerinnen in Hildesheim. Es ist ein Begegnungszentrum, das von 9 bis 14 Uhr offen hat und Frühstück für alle Interessierten anbietet. Auf dem Weg dorthin gesellt sich ein junger Mann mit langem Bart dazu, derbarfuß in Sandalen sich der Gruppe anschließt. Im gemütlichen Raum der Vinzenzpforte bei Kaffee und Keksen sowie selbstgemachtem Apfelsaft setzt sich dieser auf das Sofa dazu. Claude bindet ihn in das Gespräch mit ein. „Ich bin obdachlos“, sagt er. „In die Pforte komme ich gerne, weil die Leute hier nett sind“, meint er. „Die dahinterliegenden Geschichten und Stimmen dieses Stadtrundgangs gehen noch lange hörbar mit“, meint einer der Gefängnisseelsorger am Ende der Führung. Er kauft gleich zwei Magnete von Udo ab, der freudestrahlend seine eigens dafür hergerichtete Blech-Schatulle öffnet. Der Sozialarbeiter Claude Englebert sieht seine Aufgabe vor allem im Talente-Suchen und Geschichten-Entdecken. „Die Gäste, die unserer Soziale Begegnungsstätte, haben so viel zu erzählen und eine ganz besondere Perspektive auf Hildesheim. In unseren Sozialen Stadtrundgängen möchte ich dazu beitragen, dass alle Menschen in Hildesheim ihre Stadt mit anderen Augen sehen können. Diese Offenheit, die Perspektive zu wechseln, folgt für mich einem christlichen Menschenbild“, erzählt der Luxemburger.

Michael King


Wohnungslose und bedürftige Menschen werden in der Gesellschaft häufig übersehen – und damit auch Kompetenzen, die sie einbringen könnten, um das Zusammenleben fairer und offener zu gestalten. Ein Leben auf der Straße oder in prekären Lebensverhältnissen fordert von Menschen einiges an sozialen Kompetenzen, emotionaler Intelligenz sowie Improvisationstalent ab. Das Projekt „Street Smart“ der Vinzenzpforte der Vinzentinerinnen Hildesheim findet in Kooperation mit dem Asphalt Magazin, den Malteser KulTour(en) und Radio Tonkuhle statt. Es wird gefördert durch das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, die Klosterkammer Hannover, die Johannishofstiftung sowie das Godehardswerk und die Lotterie Sparen + Gewinnen der Sparkasse Hildesheim. Der Schwerpunkt liegt darauf, Menschen an einen Tisch zu bringen. Das Konzept wurde mit dem „Werte für Menschen“-Preis der Darlehenskasse Münster ausgezeichnet.  

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert