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Seelsorge eine Unterbrechung des Gefängnisalltags?

22. Oktober 2020

Zuerst einmal scheint Gefängnisseelsorge nichts Außergewöhnliches zu sein. Da ist ein Seelsorger, der einen besucht, mit dem man reden kann, der schon mal Kontakt mit der Familie aufnimmt und der Gruppenstunden anbietet. Dies alles kann der Gefängnisseelsorger machen. Aber das kann in deutschen Gefängnissen eigentlich jeder, dem der Staat Vertrauen entgegenbringt. Es gibt viele ehrenamtlich Tätige, die das tun. Warum dann eigens Gefängnisseelsorge? Ein Theologe hat einmal gesagt „Die kürzeste Definition für Religion ist die Unterbrechung“.

„Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung“, so hat es der katholische Theologe Johann Baptist Metz einmal formuliert. Unterbrechung von Leistungsdruck, vom täglichen Hamsterrad, von scheinbaren Sachzwängen und vom kapitalistischen Wachstumswahn, der unseren Planeten zerstört. Religion als Unterbrechung stellt infrage, dass alles so bleiben muss, wie es ist, dass gelten muss, was immer schon galt und was das Leben von uns Menschen scheinbar alternativlos bestimmt. Auch der Seelsorger im Gefängnis unterbricht etwas. Er „unterbricht“ die Gefängnisstruktur schon allein dadurch, dass er nicht Angestellter der JVA oder des Justizministeriums sondern der Kirche ist. Er „unterbricht“ den Gefängnisalltag dadurch, dass er Inhaftierte zum Gespräch in sein Seelsorgebüro nehmen kann. Er „unterbricht“ den Gefängnisalltag dadurch, dass er versucht, die Bediensteten z.B. von „schwierigen“ Gefangenen zu entlasten. Er „unterbricht“ den Gefängnisalltag dadurch, dass er sonntags zum Gottesdienst einlädt und damit zeigt, dass der Mensch mehr ist als Arbeit oder Gefängnis. Er „unterbricht“ die Gefängnishierarchie dadurch, dass er Seelsorger für alle gleichzeitig sein soll, die sich im Gefängnis befinden, die Gefangenen, die Bediensteten und Angestellten und alle, die seinen Dienst in Anspruch nehmen wollen. Es gibt einen Aufgabenbereich des Seelsorgers, in dem der Kern der Einrichtung „Gefängnisseelsorge“ besonders sichtbar wird.

Glaubwürdigkeit des Seelsorgers als Mensch

Im Kirchenstaats-Vertrag Artikel 4 steht dazu ein wichtiger Satz: „Der Anstaltsseelsorger hat im Wesentlichen folgende Aufgaben: – Abhaltung regelmäßiger Gottesdienste, besonders am Wochenende…“, und dann folgen noch eine ganze Reihe weiterer Aufgaben. Ich finde gerade in dieser ersten Aufgabe kommt das Wesen der Gefängnisseelsorge sehr gut zum Ausdruck, aus dem sich alle anderen Aufgaben ableiten: „Gottesdienst“. Das ist für mich ein anspruchsvoller und „gefährlicher“ Auftrag. „Gefährlich“ deshalb, weil die ganze Glaubwürdigkeit des Seelsorgers als Mensch auf dem Spiel steht: Der Seelsorger soll im Gefängnis „den Himmel offen halten“. Er ist nicht Angestellter des Staates, sondern arbeitet im Auftrag seines Bischofs und ist gleichzeitig an die staatliche Ordnung, an die Ordnung der Justizvollzugsanstalt und der staatlichen Institutionen gebunden. Der Seelsorger hat die Aufgabe, den Menschen zu zeigen und zu sagen, dass es einmal eine Zeit geben wird, in der es keine Gefängnisse, keine Anklagen, keine Staatsanwälte und Richter mehr geben wird, und er muss gleichzeitig diese gegenwärtige Ordnung der Gerichte und des Strafvollzugs anerkennen und sie mittragen.

Der Seelsorger soll zur „Resozialisierung“ beitragen und gleichzeitig nie aufgeben, wenn da einer zum fünften Mal „einfährt“. Ich mache die Erfahrung, dass viele Gefangene – die nie vorher etwas mit Kirche zu tun hatten, und das sind fast alle – erahnen, was Gefängnisseelsorge ist: Ich erhalte immer wieder Anfragen nach einer „Gebetskette“, und ich erkläre dann, was ein „Rosenkranz“ ist, wenn ich sie dem Gefangenen übergebe. Natürlich freuen sich Gefangene, mit dem Rosenkranz einen Schmuck tragen zu können. Aber ich mache meistens die Erfahrung, dass die Gefangenen im Gefängnis plötzlich etwas entdecken, was mit dem Rosenkranz zu tun hat. Sie entdecken, dass es in ihrem Leben eine „Leerstelle“, eine freie Stelle gibt, an die genau dieser „Rosenkranz“ hineingehört.

Ich möchte nicht behaupten, dass sie damit „Gott“ entdeckt haben. Aber viele Gefangene sehen in ihrem Leben – und wahrscheinlich gerade in der Haft, dass es etwas gibt, das nicht von ihnen selbst kommt. Sie entdecken, dass sie selbst ein Stück ihres Haftalltages „unterbrechen“ können, weil es etwas in ihrem unfreien Leben gibt, das ihnen eine andere, ganz neue Freiheit eröffnet. Und da gehört eine Bibel, ein Rosenkranz, ein Gebetbuch, ein Koran usw. hinein. Sie merken, dass es in ihrem Leben „ein Stück Himmel“ gibt, der im Gefängnis nicht zerstört werden kann und darf. Dieses „Stück Himmel“ ist auch durch das Strafvollzugsgesetz und durch die Hausordnung der JVA geschützt, indem es die freie Religionsausübung und die Nutzung religiöser Gegenstände gewährt. Für dieses „Stück Himmel“ im Gefängnis muss der Gefängnisseelsorger stets eintreten. Dafür ist er der Anwalt aller, die im Gefängnis tätig sind.

Den Himmel offen halten?

Als eine wesentliche Aufgabe des Gefängnisseelsorgers sehe ich es an, „den Himmel offen“ zu halten. Der Seelsorger hält dieses Stück Himmel aber nicht alleine offen. Er ist kein Einzelkämpfer, sondern er gehört zur Gemeinschaft der Kirche. Damit „untersteht der Dienstaufsicht seines Bischofs“ – wie es im Kirchenstaats-Vertrag zwischen den Kirchen und dem Freistaat Sachsen heißt. Er ist also mehr als nur ein ehrenamtlich tätiger Christ. Da er im Dienst der allgemeinen kirchlichen Seelsorge steht, ist dieser zu absoluter Verschwiegenheit über alles verpflichtet, worüber er sich mit Gefangenen und Bediensteten unterhält. Er muss alles mit in sein Grab nehmen. Vertragsrechtlich heißt der dazugehörige Satz im Kirchenstaats-Vertrag: „Die Freiheit der Verkündigung und das Beicht- und Seelsorgegeheimnis werden gewährleistet.“ In jedem Menschenleben ist es wichtig, dass ich mich jemandem anvertrauen und sicher sein kann, dass davon niemand etwas erfährt. Hier geht es mehr als um Datenschutz. Es geht mitunter um sehr existenzielle Fragen, ja tatsächlich manchmal um Fragen „zwischen Leben und Tod“. Auch in diesen manchmal verzweifelten Fragen haben ein Mensch und also auch ein Gefangener immer und überall das Recht, „sein Herz auszuschütten“, ohne dass davon etwas weitererzählt wird.

Der Seelsorger stellt sich in diesen Gesprächen mit dem ihm anvertrauten Menschen in die Gegenwart Gottes und sonst niemanden. Und meistens ist es gerade diese Sicherheit des absoluten Vertrauensschutzes, die den Gesprächspartner von „dummen Gedanken“ abhält. Der Gefängnisseelsorger ist also ein Diener. Er steht im Dienst der Gefangenen, seiner Familie und im Dienst all derer, die dem Gefangenen wichtig sind. Deshalb hat er auch die Aufgabe in seelsorglich begründeten Fällen den Gefangenen bei Ausführungen, bei Krankheitsfällen zu begleiten, an der Vollzugsplanung, an der Freizeitgestaltung, an der Wiedereingliederung, der sozialen Hilfe usw. bis hin zu Gnadensachen mitzuwirken. Der Gefängnisseelsorger heißt aber bewusst nicht Gefangenenseelsorger. Das heißt, er steht nicht nur im Dienst der Gefangenen sondern im Dienst aller, die im Gefängnis tätig sind bzw. die seinen Dienst in der JVA in Anspruch nehmen wollen. Hier kommt wieder die „gefährliche“ Position des Gefängnisseelsorgers zum Ausdruck: Er ist zu allen Seiten zur Verschwiegenheit verpflichtet und muss mitunter in seiner Person Spannungen aushalten, die zwischen Gefangenen und Bediensteten bzw. Mitarbeitern der JVA zwangsläufig bestehen. Dem wird er sicher nicht immer gerecht werden (können). Aber er kann auch da versuchen, Zeichen dafür zu setzen, dass es einmal eine Zeit geben wird, in der es diese Spannungen nicht mehr gibt, weil es keine Gefangenen, Bedienstete und Gefängnismitarbeiter, ja kein Gefängnis (und keine GefängnisseelsorgerInnen) mehr geben muss.

Aus: „Der Riegel“, Zeitschrift der Gefangenen der JVA Dresden

 

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