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Interview mit Gefängnisseelsorger: Schweigen ist ebenso Gebet

2. Januar 2024

Michael King ist – wie er sich selbst beschreibt – fast „lebenlänglich“ Gefängnisseelsorger im Jugendvollzug. Seit 2013 arbeitet er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Herford. Zuvor war er 6 ½ Jahre in der Jugendanstalt (JA) Rassnitz in Sachsen-Anhalt tätig. King ist neben dem evangelischen Gefängnisseelsorger für mehr als 250 Jugendliche und junge Erwachsene sowie für die Bediensteten zuständig. In Gesprächen, Gottesdiensten und Begegnungsmöglichkeiten versucht er, den harten Alltag der jugendlichen Straftäter aufzufangen. Ein Interview von ICH BETE FÜR DICH.de

Gefängnisseelsorger Michael King an einem vergitterten Flurfenster. Fotos: Julia Steinbrecht, KNA.

Herr King, wie kam es, dass Sie sich entschieden, Gefängnisseelsorger zu werden?

Als Seelsorger im Jugendvollzug bin ich in erster Linie für die Inhaftierten da. Doch ich verstehe mich ebenso als Ansprechpartner für die Bediensteten. Die Gespräche „zwischen Tür und Angel” und im Dienstzimmer sind wichtige Bezugspunkte. Die Rechte, Freiheiten, Bezüge und Kontakte, mit denen ich als Anstaltsseelsorger ausgestattet bin und damit direkt auf der Ebene der Anstaltsleitung stehe, sind für die jugendlichen Inhaftierten oft ein Anlass zu Sorge, aber auch für Ängste und Verschlossenheit. Dies ist die Herausforderung, im Justizvollzug zu arbeiten.

Ich hätte mir vor Jahren nicht vorstellen können, hinter Mauern zu arbeiten. Nach meiner dreieinhalbjährigen Zeit als Fachperson in der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien kam ich zurück in eine deutsche Kirchengemeinde. Ich merkte schnell, dass das für mich ein Kulturschock bedeutete und ich auf den Arbeitsfeldern einer solchen Kirchengemeinde nicht mehr arbeiten kann und will. Daher absolvierte ich eine pastoral-psychologische Ausbildung in Heidelberg. Nach zwei Jahren habe ich mich für den Dienst als Gefängnisseelsorger in Sachsen-Anhalt beworben. Dort machte ich die ersten Erfahrungen “hinter Gittern”. Das war nicht einfach. Doch ich merkte, dass die Themen am „AndersOrt“ hinter den Mauern existenziell sind und ich wieder ganz neu angefragt werde: Wie ich vom Glauben spreche, wie ich gottesdienstliche Feiern gestalte, ohne fertige Antworten zu haben und ohne mich hinter Gebetsformeln zu verstecken. 2013 habe ich in den Jugendvollzug der JVA Herford nach Ostwestfalen gewechselt.

Seien es katholische, evangelische, orthodoxe, muslimische oder bekenntnisfreie Menschen – in einer JVA sind vermutlich alle Religionen bzw. Konfessionen vertreten. Sind Sie seelsorgerischer Ansprechpartner für alle Gläubigen oder decken Sie “nur” den katholischen Bedarf ab?

Die jungen Menschen haben überwiegend keine kirchliche Sozialisation. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind zumeist weder katholisch noch evangelisch getauft. Wenige aus Osteuropa bringen orthodoxe Kindheitserinnerungen mit. Viele sind muslimisch, jesidisch und ein großer Teil bekenntnisfrei. Als Seelsorger der beiden Kirchen arbeiten wir nicht explizit konfessionell. Wir sind für alle Inhaftierten und die Bediensteten da und fragen nicht nach der Konfession. Die Gefangenen wissen auch nicht unbedingt, wer von uns aus welcher Kirche kommt. „Sie sind der beste Mann“, sagte einmal ein Gefangener zu mir als Seelsorger. Das geht runter wie Öl. Solch ein Kompliment. Dies bekäme ich in einer Kirchengemeinde kaum so intensiv zurückgemeldet, wie ich es hier als Gefängnisseelsorger höre. Einige bezeichnen uns auch als “Seelenversorger”. Sie nehmen wahr und wertschätzen, dass sich die Gefängnisseelsorge intensiv für die Gefangenen einsetzt. Als Gefängnisseelsorger unterliege ich der Verschwiegenheit. Dies ist ein Vertrauensvorschuss, den der Fachdienst „Seelsorge“ unweigerlich hat.

Doch nur, weil ich die „Best Practice“ zurückgemeldet bekomme, sollte ich mich nicht „gebauchpinselt“ fühlen und womöglich einwickeln lassen. Die Gefahr besteht, dass ich mich über bestimmte vorgegebene Richtlinien hinwegsetzen könnte. Von Seiten der Gefangenen nennt man das „dribbeln“. Hier und da doch etwas erreichen, was normalerweise im Justizvollzug nicht erreichbar ist. Als Gefängnisseelsorger höre ich nicht nur zu, sondern ich gebe auch Rückmeldung. Diese ist nicht unbedingt das, was das Gegenüber hören möchte. „Ich dachte, Sie sind auf meiner Seite“, sagte ein Inhaftierter, als es um die Rettung seiner Beziehung ging. Nein, das bin ich nicht per se, aber vielleicht kann ich Worte finden, mit denen der Mensch, der vor mir sitzt, seinen Weg klarer sehen und seine Persönlichkeit besser kennenlernen kann. Und: Es gibt mehr Seiten, als dem Menschen mit seiner Straftat zugeschrieben werden. Wir alle haben unterschiedliche Seiten. Da tut es gut, einen anderen Blickwinkel zu bekommen

Unterwegs auf den Wegen im Jugendvollzug mit einem Bediensteten.

Wenn ich darüber nachdenke, was das für Taten sein müssen, deretwegen Menschen eine Haftstrafe verbüßen, dann fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass diese Menschen das seelsorgerische Gespräch suchen oder gar den Wunsch verspüren zu beten. Aber mit dieser Einschätzung liege ich sicher falsch, oder?

Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis ca. 24 Jahren kommen zum größten Teil aus sozial schwachen Familien. Sie haben in ihrer Kindheit ein Wechselspiel zwischen Oma, Stiefvater, der leiblichen Mutter, Aufenthalte in Kinderheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien hinter sich. Aus den Biografien der Jugendlichen und deren Delinquenzen wird deutlich, dass sie eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen, Naivität und Sorglosigkeit, Aggressionen und Beeinflussungen ausgesetzt waren und sind. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, keine oder nur eine bruchstückhafte Schulbildung haben sie gelehrt, ihren Mangel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren.

Hinter den Straftaten stehen junge Menschen mit ihrer Geschichte oder (Sucht)Erkrankungen. Manche zeigen Reue, manche überspielen und manche lehnen jegliche Aufarbeitung ab. Der Vertrauensvorschuss, der darin besteht, dass der Seelsorger der Schweigepflicht unterliegt, ist kostbar und schutzbedürftig. Die Jugendanstalt ist mit all den harten Geschichten ein Ort der permanenten Krise, wo alle, Jugendliche und VollzugsmitarbeiterInnen, unter ständiger Anspannung leben. Gegenüber den Tätern, Bediensteten und Angehörigen nehme ich als Seelsorger meine Aufgabe als aktiver Gesprächspartner und Weg-Begleiter wahr. Ich lasse mich auf den Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen bis jetzt gemachten guten wie negativen Erfahrungen und seinen Hintergründen ein. Ich versuche Gegenüber mit all meinen Stärken und Schwächen auf einer Grundebene des Verstehens zu sein, ohne die Opfer und Geschädigten von Straftaten auszublenden.


Seelsorge ist für mich immer die Sorge um den ganzen Menschen. In den christlich geprägten Gottesdiensten in der Anstalt am Sonntag sind junge Menschen da, die eine Struktur für den Sonntag suchen. Da beten wir das Vaterunser mit muslimischen und bekenntnisfreien Jugendlichen. Niemand muss mitbeten, das solidarische Dastehen reicht aus. Es wird respektiert, was in der Feier sich zeigen will. Kerzen entzünden, das Denken an die Menschen draußen ist wichtig. Das ist Gebet in vielen Formen. Es gelingt mal mehr, mal weniger. Aber: Sie haben eine Horizonterweiterung. Es gibt viel mehr als die Mauern. Wir nennen die Kraft Gott oder Göttlichkeit, die sich unterschiedlich in den Religionen und den Menschen zeigt.

Gibt es in den vielen Jahren Ihrer Tätigkeit ein besonders berührendes Erlebnis, das Ihnen im Zusammenhang mit dem Beten im Gedächtnis haften geblieben ist?

Im Jahr 2023 hat sich ein 21-jährigen junger Mann aus Somalia in seinem Haftraum umgebracht. Für die Mitgefangenen und die Bediensteten ist das schwer auszuhalten. Wie finden wir da Worte? Ist das Gebet in solch einer Situation angebracht? Das gemeinsame Schweigen ist ebenso Gebet. Dem Einsatz von Mitgefangenen und Bediensteten war es schließlich zu verdanken, dass der Verstorbene auf einem islamischen Gräberfeld Richtung Mekka ausgerichtet bestattet wurde. Lange noch stehen die Beteiligten am offenen Grab. Ein Vater des benachbarten Grabes seiner Tochter stellt sich dazu. „War er Muslim?“ fragt dieser. „Ja“, bekommt er zur Antwort, auch wenn dieses Begräbnis nicht ganz dem Ritus des Islam entsprochen hat. Die Beteiligten haben das Beste getan, um eine anonyme Bestattung zu vermeiden.

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? „Gebet ist für mich…“

Gebet ist für mich das Aussprechen einer Sehnsucht und der Glaube daran, dass es noch mehr im Leben gibt als das, was ich gerade wahrnehmen kann. Gebet ist für mich die Sammlung meiner göttlichen Kräfte in mir. Ein Auftanken, die Herausforderungen meines Lebens wahrzunehmen.

Das Interview führte Achim Beiermann  

ICH BETE FÜR DICH!

 

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