In der Vorstellung vieler Menschen existiert der Koran in Form eines Buches. Zwischen den Buchdeckeln befindet sich ein Text, der in 114 Suren gegliedert ist, die wiederum aus einzelnen Versen bestehen. Das arabische Wort für Koranvers lautet āya (Pl. āyāt) und bedeutet zunächst „Zeichen“. Im Koran benennt das Wort eine „Beglaubigung“ der Einzigartigkeit Gottes (16,65) oder einen „Beweis“ bzw. ein „Wunder“ biblischer Überlieferungen, wie z.B. die Rettung der Israeliten durch Moses (26,63-67). An anderen Stellen nähert sich das Wort der Bedeutung „Koranvers“, da das Vorgetragene selbst zum „Zeichen“ oder „Wunder“ wurde (8,31).
Mehrere āyāt bilden wiederum eine Sure (sūra, Pl. suwar). Das Wort könnte koranischer Prägung, aus dem hebräischen šūrā für „Reihe“ oder aus dem Syrischen von surṭa für „Schrift“ abgeleitet sein. Nachkoranisch verwendete man sūra als Terminus für einen abgeschlossenen Vortragstext. Hartmut Bobzin formuliert treffend, dass eine Sure gleichsam „ein Koran im kleinen“ sei. Demnach bezeichnet der Text zwischen den beiden Buchdeckeln, der Koran (qur’ān), den Vortragstext als Ganzes. Doch während der Korangenese wurden die drei Begriffe (qur’ān, sūra, āya) teilweise parallel verwendet. So stammt das Wort qur’ān vom arabischen Verb qara’a, welches „rezitieren“ oder „vortragen“ bedeutet. Die Gleichsetzung von Koran mit Buch funktioniert somit nicht. Dies wird deutlich, sobald man die 70 Stellen, an denen das Wort qur’ān vorkommt, untersucht. So bezeichnet z.B. in Sure 17,78 der Begriff qur’ān eine Rezitation: Verrichte das Gebet (ṣalāt) vom Niedergang der Sonne an bis zum Einbruch der Nachtfinsternis, und den „Koran“ der Morgendämmerung.
Es zeigt sich, dass der Koran in seinem Selbstverständnis weit über die Form eines Buches oder eines Erzähltextes hinausreicht. Angelika Neuwirth spricht vom Koran als „Verkündigung“, die sich über zwei Jahrzehnte hinzog, in der sich verschiedene Sprachstile ablösen – von der poetischen zu einer eher prosaischen Rede – und die dennoch von einer formalen und gedanklichen Kontinuität gekennzeichnet ist. So erscheine der Koran zunächst unverbunden mit der ihm vorausgehenden arabischen Literatur und isoliert von benachbarten jüdischen und christlichen Literaturen. Der Koran stehe „als Verkündigung in mantischer Rede“ wie ein „erratischer Block“ in der Literaturlandschaft. Eine Sprache voller Metaphorik und mit eigenen ästhetischen und semantischen Regeln macht das Verständnis ohne Hintergrundwissen nicht einfacher. Auch die Chronologie folgt nicht einer narrativen Logik und erschwert somit eine kontinuierliche Lektüre, die man von Erzähltexten gewohnt sein mag. Nicht umsonst propagieren Muslime, dass die Botschaft erst durch die Rezitation zum Klingen und zum Tragen komme, sozusagen zum Leben erweckt würde. Bestärkt wird dies durch den Umstand, dass im Koran der Reim ein Kompositionsmittel ist. Dabei folgt der Reim eigenen, von der Poesie unabhängigen, Formgesetzen.
So bleibt zum formalen Aufbau des Korans lediglich das schon Bekannte zu sagen; dass er eben über 114 Suren verfügt, die grob nach ihrer Länge geordnet sind. Eröffnet wird das Buch mit der al-Fatahi (al-Fātiḥa), „der Eröffnenden“. Sie ist die am häufigsten gesprochene Sure, da sie regelmäßig in den Ritualgebeten, aber auch zum Abschluss von Bittgebeten gesprochen wird. Sie ähnelt im Aufbau dem „Vater unser“. Im ersten Teil der Sure dankt und lobpreist man Gott, danach bittet man um Hilfe und den rechten Weg. Die darauffolgende zweite Sure „die Kuh“ (al-baqara), in Erinnerung an das biblische Goldene Kalb, ist mit 286 Versen die längste Sure des Korans. Danach folgt die Anordnung der Suren weitgehend in abnehmender Länge.
Ästhetik des Koran
Der Koran begegnet Muslimen im Alltag vor allem als gesprochenes Wort, als Rezitation in den verschiedenen Medien, in der Moschee oder auch in Form der Kalligrafie. Die metaphorische Sprache lässt an etlichen Stellen ein kompaktes „Bild“ entstehen, weshalb bereits klassische Korangelehrte den Text als „hypertextuell strukturierten nichtlinearen Text“ wahrnahmen. Verstärkt wird diese Wirkung des Textes durch das Stilmittel der arabischen Sprache mit möglichst wenig Mitteln, Vieles zu sagen, das bewusst auch mehrdeutig verstanden werden soll. Die Rezitation bietet nunmehr eine Möglichkeit diese Bilder haptisch sichtbar zu machen. In Anlehnung an den katholischen Theologen Eugen Drewermann könnte man es als ein Mittel bezeichnen, um den „garstig breiten Graben“ zwischen der Zeit der Offenbarung und dem Heute zu überwinden und die eigene Seele zum Klingen zu bringen.
Die Ästhetik des Korans sei, so formuliert Nawid Kermani in „Gott ist schön“, in der Rezeption angelegt, die sich „auf die sinnliche Erscheinungsweise“ beziehe. „Eine ‚ästhetische’ Erkenntnis“ sei „demnach eine Erkenntnis durch die Sinne, nicht eine […] deutliche Vernunfterkenntnis. “Bereits der Prophet selbst hat dies laut einem Hadith (ḥadīṯ, „Nachricht“ von oder über Prophet Muhammad) zum Ausdruck gebracht: „Der Gläubige, der den Koran rezitiert und nach ihm handelt, gleicht der Zitrusfrucht: Ihr Duft ist angenehm, und sie schmeckt gut […].“ Früh entwickelte sich die „Lehre der Lesarten“ (ʿilm ul-qirāʾa), welche den Text auf Varianten hin untersuchte, die aufgrund von Konsonantenverdoppelung oder unterschiedlich tradierter Konsonanten und Vokalisation entstehen konnten. Eine Disziplin innerhalb der ʿilm ul-qirāʾa ist die Kunst der schönen Rezitation (tağwīd), die festen Regeln bezüglich des Sprechtempos, der Aussprache, Pausen und dem Einhalten syntaktischer und inhaltlicher Einheiten folgt.
Eine Wiedererinnerung
Als die beiden größten Wissenszweige bildeten sich die Kalam- und die Fiqh-Gelehrsamkeit heraus. Kalam (kalām, „Rede“) wird oft als spekulative Theologie übersetzt, beinhaltet aber ebenso Themen aus der Philosophie, der Systematischen Theologie und der Dogmatik. Ilm ul-Fiqh (ʿilm ul-fiqh) ist die „Lehre des Verstehens“ und wird meist mit „Islamische Jurisprudenz“ übersetzt. Diese Verstehens- oder Rechtslehre mit Alltagsbezug untersucht Koran und Hadith hinsichtlich gottesdienstlicher Handlungen (ʿibādat) und des menschlichen Zusammenlebens (muʿāmalāt). Darüber hinaus entwickelten sich noch weiter Wissenszweige wie die Exegese (tafsīr), Asbāb an-nuzūl („Anlässe des Herabkommens“) und Hadith-Literatur (ḥadīṯ, Pl. aḥādīṯ, „Nachricht“, „Erzählung“). Asbāb an-nuzūl fragt nach den Offenbarungsanlässen; stellt also die Frage nach dem kontextualen und historischen Anlass (sabab, Pl. asbāb) für die Offenbarung eines Verses oder Abschnittes. Die Hadithgelehrten wiederum befassten sich mit den Aussagen von oder über den Propheten Muhammad. Muslime verwenden noch eine Reihe anderer Bezeichnungen für den Koran. Oft bezeichnet man ihn schlicht als kitāb (Schrift, Buch), in Bezug auf seine Wirkmächtigkeit als nūr (Licht), rūh (Geist), haqq (Wahrheit), bayn (Klärung) oder auch als furqān (Unterscheidung) und hudā (Rechtleitung). Die Bezeichnung ḏikr (Erinnerung) macht deutlich, dass man sich mit dem Koran an eine Botschaft erinnern soll, die im Kern bereits bekannt ist und die nur der Wiedererinnerung bedarf.
Sprechen Muslime vom Koran so wird ihm oft das ehrende Beiwort karīm hinzugefügt, was soviel wie „edel, geehrt“ bedeutet: der edle Koran. Auffallend ist, dass die Bezeichnung „Heiliger Koran“, wie sie oft (auch von Muslimen) im Deutschen oder in anderen europäischen Sprachen verwendet wird, im Arabischen, Türkischen bzw. im originären Sprachkontext der Muslime nicht existiert. Mohsen Mirmehdi stellt fest, dass es aufgrund der Logopräsens Gottes keine Differenz zwischen heiligen und nicht-heiligen Stellen innerhalb der Schrift gäbe, da „nämlich eine substantielle Differenz zwischen Heiligem und Nicht-Heiligem in der Realität vor Gott, dem allmächtigen Schöpfer, keinen Bestand haben könne.“ Ähnlich diesem Sinne gibt es im Islam auch keine heiligen oder geweihten Orte. Hier finden sich Parallelen zu Martin Luthers reformatorischer Ethik, wie er sie in „Sermon von den guten Werken“ definiert. Dort hebt er die Unterscheidung zwischen edlen und weniger edlen Werken, zwischen kultischem und profanem Handeln auf. Allerdings finden sich sehr wohl Übergangsrituale z.B. zur Koranlesung, zum Gebet oder zum Moscheebesuch, die zumeist durch die Gebetswaschung und die Basmala-Formel eingeleitet werden.
Respektvoll umgehen
Im Unterricht kann passieren, dass Schüler sich weigern, den Koran ohne Gebetswaschung zu berühren. Bekanntlich soll man mit dem Koran respektvoll umgehen und ihn z.B. nicht auf den Boden sondern auf erhöhte Plätze legen. Allerdings scheint es, aufgrund von Unwissenheit zu Übertreibungen zu kommen. Die arabische Niederschrift des Korans nennt man muṣḥaf, „Buch, Kodex“. In manchen Kreisen wird der muṣḥaf fast schon als eine Art „Fetisch verehrt,“ dem „baraka zugeschrieben wird, magische Kräfte“. Die koranische Aussage in Sure 56:79, dass das „wohlverwahrte Buch“ nur diejenigen berühren dürfen, die „vollkommen gereinigt sind“, bezieht sich auf die himmlische Urschrift. Dennoch wurde diese Aussage schon bald auf das materielle Schriftstück umgemünzt. Parallel zum Prozess der Vereinheitlichung und Beschränkung von Textvarianten und Lesarten ist eine zunehmende Bedeutung des geschriebenen Korans (muṣḥaf) zu beobachten.
So erfordert das Berühren des muṣḥaf nach klassischer Rechts- und Pflichtenlehre (ʿilm ul-fiqh) eine vorher durchgeführte Waschung (wuḍūʾ). Allerdings bezieht sich dies immer auf das arabische Original. Übersetzungen sind davon ausgenommen. Darüber hinaus gibt es wiederum Ausnahmen, wenn nur Teile des arabischen Originals beispielsweise im Zusammenhang mit einem Kommentar auf einem Arbeitsblatt abgedruckt sind. Auch hier ist eine Waschung nicht Voraussetzung. Der Koran darf im arabischen Original ohne Gebetswaschung aus dem Gedächtnis rezitiert werden, sofern dies nicht gottesdienstlichen Handlungen dient. Im Rahmen eines Unterrichts kann der arabische Text auch ohne wuḍūʾ abgelesen werden. Nichtmuslime dürfen den muṣḥaf ohne Waschung anfassen, sofern eine gute Absicht gewährleistet ist. Mehr lesen…
Bernd Ridwan Bauknecht
Gesamter Artikel. In: Der Koran, Clauß Peter Sajak (Hg.): Heilige Schriften, Texte- Themen-Traditionen, Lernen im Trialog – Heft 3, Paderborn 2015, S. 26-33