Mauern und Zäune und die alltäglichen Engstirnigkeiten hinter Gittern lassen oft keine Lichtblicke erkennen. Viele fühlen sich wie im Tunnel ohne Ausgang. „Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels“, hört man Inhaftierte sagen. Zu hart sind die Geschichten Inhaftierter, zu abgründig deren Vergehen und zu unbarmherzig gehen Gefangene untereinander um. Die Tunnel- oder auch Wüstenerfahrung kennen wir selbst zu genüge, auch außerhalb des Gefängnisses.
Selbst wenn wir noch nie da waren: Wir haben Bilder oder Berichte gesehen, haben ganz bestimmte Vorstellungen und Phantasien von dieser beeindruckenden und zugleich gefährlichen Landschaft einer Wüste. Wüste, d.h. sandige endlose Weiten, trockenes Ödland ohne Wasser. Wüste, das bedeutet brennende Hitze bei Tag und unangenehme Kälte bei Nacht. Wüste, d.h. unterwegs sein und Leben in unbehauster Einsamkeit. Wüste – das ist gnadenloses Ausgeliefertsein an die gewaltige Macht der Natur. Solche Bilder und die Vorstellung, sich in der Wüste zu verirren und dort zu verdursten, können uns mit Unbehagen und Abneigung gegenüber dieser Landschaft erfüllen. Die Vielfalt und der Reichtum der Wüste, ihr verborgenes Leben und der geheime Segen, der aus ihr kommen kann, all das bleibt uns weithin verborgen.
Menschen, die in der Wüste zu Hause sind oder sich in sie zurückgezogen haben – Nomaden, Eremiten und Abenteurer – sie haben es immer gewusst und auch erfahren: Die Wüste birgt nicht nur Risiko und Gefahr. Für den, der ihr aufmerksam und sensibel begegnet, hält sie großartige Entdeckungen von faszinierender Schönheit bereit. Wer sich wirklich auf sie einlässt, der kann Erfahrungen machen, an denen er wachsen und reifen wird.
Auch in den biblischen Lesungen und in manchen Liedern des Advent wird von der Wüste gesprochen, weniger in einem geographischen als in einem symbolischen Sinn. Nicht von der Wüste als Landschaft in Afrika oder Asien ist da die Rede, sondern von der Wüste als Sinnbild unserer Lebenserfahrung und unseres Glaubens. Die biblischen Texte und Lieder kennen uns selbst und unser Leben besser als wir vermuten. Wie oft leben wir in einer wüstenartigen Welt! Und wie oft sind wir innerlich ausgetrocknet, fruchtlos und leer! Sehen kein Licht und kein Leuchtturm. Wie oft müssen wir das Los der Wüste miteinander teilen! Diese Wüste hat viele Gesichter, in uns und um uns herum.
Wir alle kennen diese Wüsten und ihre Schreckensgesichter. Wir sprechen von Betonwüsten in unseren Städten, wenn alles zugebaut ist und Menschen keinen gedeihlichen Lebensraum mehr haben, um sich zu entfalten. Wir spüren die Wüste in menschlichen Herzen, wenn alles leer und öde geworden ist. Wüste – das ist ein Bild für die Einsamkeit, für das Alleingelassen werden. Wüste heißt Sinnlosigkeit, heißt ohne Beziehungen leben, vertrocknet und ausgedörrt sein.
Für die Einsiedler der frühen Christenheit war die Wüste der Ort der Dämonen, der Ort, an dem das Dunkel sich herumtreibt, an dem das Böse nach dem Menschen greift. Vielleicht kann man im Blick auf heute sagen: Wüste – das ist der Ort, an dem die bösen Zeitgeister herrschen: der Geist der Gewalt, der Geist der Ausbeutung, der Geist der Zerstörung und des Hasses v. a. auf alles, was fremd ist, der Geist der Vereinzelung und des Misstrauens.
Das, was unsere Phantasie der Wüste zuschreibt, ist wohl auch ein Teil von uns selbst: die wilden und ungezügelten Kräfte, die ungezähmten Schreckgespenster, die Irrwege und Täuschungen, all die widerwärtigen Seiten unseres Lebens. In diesen Wüsten unseres Lebens sollen wir dem Herrn den Weg bereiten. Nicht auf den Straßen unseres Erfolgs und unserer vorzeigbaren Leistungen will er zu uns kommen, sondern gerade dort, wo so vieles verirrt und vertrocknet ist.
Der Advent will uns Mut machen, die öden und vertrockneten Landschaften unseres Lebens nicht einfach auf den Müll zu schmeißen. Stell dich Ihnen! Schau sie an! Versuch, sie zu verstehen! Und halt sie Gott hin, damit er gerade dort zu dir kommen und dir menschlich begegnen kann! Wenn wir Gott in unsere Wüsten hineinlassen, kann mitten in unserem oft so öden Dasein wirklich werden, was der Prophet Jesaja verkündet: „Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen… In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe. Der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu sprudelnden Quellen.“
In der Bibel ist die Wüste nicht nur ein Bild des Schreckens und der Gefahr. Wüste ist auch der Ort intensiver Auseinandersetzung. Sie ist der Ort der Prüfung und der klärenden Erneuerung. In der Öde und in der Unbehaustheit der Wüste haben Menschen immer wieder die wahren Prioritäten ihres Lebens entdeckt. Wie nie zuvor haben sie dort die Sehnsucht verspürt nach einem frischen Quell, nachfruchtbarem Land, nach gelingendem Leben, das mit Gottes Willen in Einklang steht. – Elia, Johannes, Jesus, Paulus und viele andere… Mitten in den Anfechtungen der Wüste haben sie den Anruf Gottes gehört, haben Stärkung und Ermutigung zu neuem Aufbruch erfahren.
So wünsche ich uns, dass wir den Mut aufbringen, unsere Wüsten auszuhalten und zu bestehen. Ich wünsche uns, dass wir dort erfahren: Gott steht zu uns und er schickt uns immer wieder einen Engel und einen Leuchtturm. Der hilft uns auf, wenn wir keine Lust und keine Kraft mehr haben. Und der stärkt unsere Hoffnung, dass es wahr ist, was die Bibel uns sagt: Manchmal gibt es ein Aufblühen – mitten in unseren Wüsten. „Ein Licht am Ende des Tunnels.“ Und die versiegten Quellen unseres Lebens, sie sprudeln wieder neu!
Dietmar Jordan