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Teil der Wahrheit sehe ich, einen Du. Einen sehen wir beide nicht!

2. Mai 2024

Ein verrückter Typ, dieser Gerasener, auf den Jesus in der von Markus überlieferten Begebenheit trifft (Mk 5,1-13). Ein verrückter Typ – legt sich mit allen und jeden an, selbst mit den ganz großen Brocken, mit Steinen und Felsen schlägt er sich. Sprengt Ketten und Fesseln, die ihn zurückhalten. Sein Tun–Ergehen-Erleben scheint ver–rückt, aus dem Geleichgewicht, aus der Mitte gefallen. Von Rücksicht auf andere, schon gar auf sich selbst, Rücksicht auf seine Gesundheit: Fehlanzeige!

Der amerikanische Jesuitenpater Gregory Boyle schildert in seinem Buch Ins Herz tätowiert eine Begebenheit mit einem ehemaligen Gefangenen, dessen ver-rückte Wirklichkeitssicht überrascht.

Wir begegnen uns vorm Einkaufsmarkt. Ich erkenne Leni natürlich, warte aber ab, was er tut. Und genau das will er natürlich als Erstes wissen: „Na, kenn‘ste mich noch?“ „Nee!“, flunkere ich. Dann setzte ich nach: „Mensch Dog, wie könnte ich dich vergessen.“ Leni strahlt. Offenbar auch, weil ich seinen Spitznamen noch weiß. Vor wenigen Stunden ist er zum wiederholten Mal aus dem Gefängnis entlassen worden. Hatte eine mehrjährige Haftstrafe abgesessen. Jetzt ist er neunundzwanzig. Im Jugendknast hat er einen Schulabschluss hinbekommen. Die Tätowierungen auf seinen Armen wirken wie Ärmel – jeder Zentimeter Haut ist bedeckt. Vom Haaransatz bis zum Schlüsselbein steht in dicken, schwarzen Buchstaben der Name seiner Gang.

Lenis Schädel ist kahl rasiert und ebenfalls mit beeindruckenden Tätowierungen bedeckt. Das Hervorstechendste sind jedoch zwei ausgezeichnet gearbeitete Teufelshörner auf der Stirn. „Also“, fängt Leni rumdrucksend an, „ist echt schwer für mich, von hier bis zur nächsten Railway – Station zu kommen. Is‘ mehrere Mailen von hier.“ Meine Fahrt ging eh in seine Richtung: „Also… steig ein, ich nehm‘ dich mit.“, sag ich. Wir verstauen seine Habseligkeiten im Kofferraum. Genüsslich nimmt Leni auf dem Beifahrersitz Platz. Die Stimmung ist gut! Die Sprüche fliegen hin und her, und wir haben so großen Spaß miteinander, sodass ich erst spät bemerke, dass die Tankanzeige auf fast leer steht.

Ich wende mich an Leni. „Ohje, Dog, die Tankanzeige steht voll auf Reserve.“ Anscheinend traut er meiner Wahrnehmung nicht ganz, denn er beugt sich zu mir rüber, um auf die Tankanzeige zu schauen. „Alles in Ordnung“, meint er und winkt ab. „Alles in Ordnung? Ich bin auf Reserve, Dog! E – bedeutet: Empty. Leer.“ Leni sieht mich mit großen Augen und echtem Verblüffen an. „E bedeutet leer?“ „Ja klar, was hast du denn gedacht?“ „Enough! E wie Enough – Genug.“ „Und was dachtest du, wofür steht das F ?“, bohre ich nach. „Na, Finished! Erledigt!“

Nacherzählt nach Gregory Boyle

Immer öfter begegnen uns solche Menschen im Gefängnis. Täter ohne Rücksicht auf Folgen, Täter ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit – werden so zu Opfern ihrer Selbst. Ver-rückte Menschen! In Beziehung zu solchen Menschen gehen wir als Seelsorgende im Spannungsbogen aus Nähe und Distanz. Wollen ja selbst nicht ver – rückt werden, im Sinne von: aus der eigenen Mitte geraten. Und Jesus? Jesus macht’s anders! Er geht voll auf Nähe!

Er kommt dem Mann so nahe, dass dessen vielen inneren Ver-rücktmacher aus der sprichwörtlichen Haut fahren müssen. Halten solche Nähe nicht aus. Halten einem solch durch und durch gehenden Blick Jesu nicht stand. Flucht in andere Opfer – in diesem Fall Schweine – ist deren Fluchtplan. Eine Legion böser Geister – Bild für die Römer – stürmen in Gestalt der für Juden verachtetsten Tiere (Schweine) einen Abgang hinab in den „nassen Tod“. Problem gelöst! Politischer Spott und Witz waren schon immer die Waffen der Unterdrückten, vielleicht auch der Ver-rückten.

Ein Blick auf das Bild mag den geneigten LeserIn zu der Frage anregen: Was hat nun diese biblische Geschichte mit dem Bild zu tun? Nichts, natürlich! Und dann doch – ganz viel! Es soll eine kleine Geschichte illustrieren über eine ver-rückte Sicht auf die Wirklichkeit – im Gegenüber zu Heute. Wir sehen eine Kraftstoff – Füllstand – Kontroll – Anzeige eines guten, alten, heutzutage leider zu Unrecht verteufelten Verbrennens. E = emty = leer / F = Full = voll. Der Zeiger zeigt dicke Reserve, emty. Und sagt: Nicht genug! Es reicht nicht für die nächste größere Fahrt. [Geschichte von Gregory Boyle]

Verrückter Typ – dieser Leni und auch der Gerasener. Ver-rückt? Wirklich? Der bekannte Psychotherapeut Paul Wazlawik hätte so geantwortet: Einen Teil der Wahrheit sehe nur ich. Einen Teil siehst nur du. Und einen sehen wir beide nicht!

Gebet

Herr, unser guter Gott, manchmal ist unser Blick ver-rückt auf Menschen und Situationen. Und doch besitzen wir Wahrheit. Ausgespannt zwischen den Polen „Enough und Finished“ kann manches Leben aus der Mitte geraten, ver-rückt werden. So bitten wir Dich, stifte heute solche Begegnungen wie einst zwischen Jesus und dem Gerasener, die heilen und neu verorten helfen – dorthin, wo es für die Betroffenen gut ist. Amen

Steffen Richter, Mk 5,1-13 | JVA Volkstedt
Morgenandacht bei der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland | Schmochtitz/Bautzen 23. April 2024

 

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