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Gefängnisseelsorge als ein theologischer Anders-Ort

19. August 2020

Gefängnisseelsorge steht – wie sollte es anders sein – in der Nachfolge Jesu Christi, der sich in seinem Leben weder durch gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen noch durch Gesetze, wenn sie nicht menschengerecht waren, in seiner Zuwendung zu den Menschen behindern ließ. Gefängnisseelsorge steht in der Nachfolge, indem sie sich dem Menschen zuwendet, den Menschen im Straftäter sieht und nicht aufgibt – und auch wenn die Straftat vollkommen unverständlich bleibt und unter Umständen große Ablehnung hervorruft. Der Straftäter selbst wird gerade nicht als der „ganz Andere“ abgelehnt und erneut verurteilt.

Die zuwendende Begegnung kann für den Inhaftierten zu einer bedeutenden Erfahrung werden, zu einer Unterbrechung von Erwartungen, zur Durchbrechung des „Abgeschrieben-Seins“. Diese Unterbrechung kann eine Neuorientierung des Handelns erleichtern. In dieser zuwendenden Begegnung liegt aber auch eine Durchbrechung herrschender sozialer Normen und Diskurse. Auch deshalb kommt der Gefängnisseelsorge eine besondere Bedeutung zu – gesellschaftlich und kirchlich! Ich versuche das im Folgenden zu erläutern mit dem Foucaultschen Begriff der Andersorte.  Heterotopien – sind im Gegensatz zu Utopien (u-tópos = Nicht-Ort) reale Orte in der Gesellschaft, die aber Widerlager darstellen, „in denen die Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“

Ortswechsel der Theologie und Kirche

Sie legen also im Gegenüber zur normalen Ordnung „verschwiegene, übersehene, verkannte Ausschließungsmechanismen in jener Ordnung der Dinge frei, welche Politik, Gesellschaft, Kirche, personale Verhältnisse beherrscht.“ Das in der Gesellschaft Unsichtbare, oder: unsichtbar Gemachte, wird hier sichtbar. Heterotopien haben eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft, die sich meist zwischen den Polen Kompensation und Illusion bewegen. Womöglich ist die (vermeintliche) Auslagerung – von Diskursen und Personengruppen – aus der Gesellschaft die bedeutendste Funktion. Für Foucault gibt es verschiedene Typen von Heterotopien, einer davon charakterisiert die Abweichungsheterotopien, „in sie steckt man Individuen, die abweichen von der Norm“ – dazu zählt er Erholungsheime, psychiatrische Kliniken – und eben auch Gefängnisse.

Es geht um Orte, in den Menschen „gelagert“ werden, die aus der Gesellschaft ausgeblendet werden und die sich zugleich an diesen Orten in der Gesellschaft befinden, konstituiert durch gesellschaftliche Diskurse – außerhalb jener und sie doch auch prägend. Der Zumutung der der Gesellschaft Unzumutbaren kann hier nicht ausgewichen werden! „Heterotopoi sind Orte, die es als eine gesellschaftliche, politische, kulturelle, religiöse Realität gibt und an denen zugleich eine andere Ordnung der Dinge sichtbar wird.“ Wie auch immer wir die Ordnung der Dinge bestimmen, die im Gefängnis sichtbar wird, sie sagt etwas über unsere Gesellschaft aus. Nun lassen sich diese Heterotopoi auch als theologisch relevante Orte interpretieren. Als Welt-Kirche, die die „Freude und Hoffnung, Traue und Angst der Menschen von heute, insbesondere besonders der Armen und Bedrängten aller Art (Gaudium et Spes GS 1)“ zu ihren eigenen macht muss die Pastoral die Orte der „Ausgelagerten“ auch zu den ihren machen. Es ist deshalb richtig, von „Ortswechseln“ der Pastoral, der Kirche und auch der Theologie zu sprechen.

Eingang zur Kirche der Justizvollzugsanstalt Herford.

Kontextuelle Theologie

Heterotopoi sind Ortsbestimmungen mitten in dieser Zeit, die etwas freilegen, was verschwiegen wird. Es geht darum, die Orte der Verletzungen und Entwürdigungen, des Ausschlusses und der Ohnmacht ausfindig zu machen, und als Orte des Ringens um Menschenwürde zum eigenen Ort zu machen und sich mit denen zu solidarisieren, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen. Es sind Orte, denen man sich um Gottes Willen stellen muss! Auch die Gefängnisseelsorge lässt sich heterotopisch als theologisch relevanter Ort verstehen. Was aber bedeutet das?

  • „In der eigenen Zeit präsent sein, sagten wir. Darum geht es jetzt“ so formulierte Chenu, einer der Theologen, die Gaudium et Spes (GS) mitgeprägt haben, bereits 1937. Darum geht es noch heute. Er nennt damals Vor-Gaben der Offenbarung in der Welt, die der Theologe zu sehen habe: den Pluralismus der Kulturen, die Selbständigkeit der kolonisierten Völker, die soziale Gärung etc. – er nennt das, was Menschen in der Zeit Angst machte und mahnt, genau dort hinzusehen statt darüber hinwegzusehen. Und er nimmt die Angst, weil er die Orte theologisch relevant macht. „Das alles sind loci theologici in actu“ Das ist eine theologische Vorgabe und Aufgabe in Präsenz des Heiligen Geistes. Auch das Gefängnis ist ein solcher Ort. Die erste Aufgabe des Theologen und der Theologin besteht in der Präsenz. Einfach da sein!
  • Diese Präsenz kann dazu beitragen, dass die Auslagerungsmechanismen aus der Gesellschaft sichtbar werden. Zum Charakter der Heterotopien gehört das spezielle Ineinander von „Eigenem“ und „Anderem“. Das aus der Gesellschaft Ausgelagerte ist gerade doch in ihr präsent. Das bedeutet zum Einen: Ich selbst bin in der Begegnung mit den „Ausgelagerten“, ich kann mich nicht entziehen. Der Raum, in dem ich als Gefängnisseelsorger mich bewege, ist also mein Raum. Die gesellschaftlich so penibel vorgenommenen Ab- und Aus-Grenzungen werden somit durchbrochen, weil es ein geteilter Raum ist. Die Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Gefängnisseelsorge – innerhalb der Kirche und der Gesellschaft – ist bedeutend: Zu Wort melden, Perspektiven einbringen, nicht schweigen, wo Unrecht geschieht.

Zuwendung zu Tätern keine Missachtung der Opfer

In Anlehnung an Hans Joachim Sander von der Theologischen Fakultät Salzburg wurde gesagt, dass eine heterotopisch verstandene Pastoral den Blick auf die Verhältnisse lenkt und dort tätig wird, wo Menschen um Ihre Würde ringen. In der christlichen und grundgesetzlichen Überzeugung, dass auch Straftäter ihre Würde nicht verlieren, sie Ihnen aber immer wieder abgesprochen wird, erfüllt Gefängnisseelsorge hier eine bedeutende Aufgabe. Die Zu-Wendung zum Täter ist elementarer Teil Ihrer Profession. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Gefängnisseelsorge nicht exklusiv ist. Sie ist ein theologischer Ort. Es gibt andere. Die Zu-Wendung zu den Tätern darf die Opfer weder vergessen, noch ihnen neues Leid zufügen. Hier scheint mir in der öffentlichen Meinung derzeit eine große Überzeugungsarbeit nötig, dass die Zuwendung zu den Tätern keine Missachtung der Opfer ist.

Zwischen Stimme und Stimmung. AndersOrt wurde als Titel für die Fachzeitung der Gefängnisseelsorge gewählt.

  • Die Zu-Wendung zu dem Straftäter als Menschen kann dazu führen, dass es für ihn Brücken von dem Andersort der Gesellschaft in die Gesellschaft gibt. Es geht nicht darum, dass der Gefängnisseelsorge die Aufgabe der Resozialisierung aufgebürdet werden soll, aber die Andersorte werden zum gesellschaftlichen Abstellgleis, wenn sie nicht immer wieder benannt werden – und durch Brücken mit der Gesellschaft, zu der sie ja gehören, verbunden werden. Schließlich sollen die Inhaftierten ein Leben in der Gesellschaft führen können. Ein Stück weit befähigt Gefängnisseelsorge dazu durch den Zuspruch, dass der schuldig gewordene Mensch nicht aufgegeben wird! Zuwendung ist hier nicht emotional verstanden, sondern – beinahe physisch – als ein Hinwenden zum Inhaftierten, um den Menschen zu sehen.
  • Was uns in der Theologinnen und Theologen recht leicht über die Lippen geht, nämlich dass aus der unbedingten Zuwendung Gottes die Befähigung folgt zu handeln, dass sie uns befreit zu handeln, ist eine gewaltige Aussage – und nirgends wird das deutlicher als im Justizvollzug. In der Zusage Gottes liegt eine bedingungslose Ermächtigungzusage an Randexistenzen. Und die zentrale Aufgabe der Gefängnisseelsorge ist es, diese Zusage auszusprechen – das geschieht durch die genannte Zuwendung zum Inhaftierten als Menschen. Inmitten der skizzierten Stimmungen und des Panoramas stellt das eine Unterbrechung und eine Ermächtigung zum Handeln dar.
  • Prof. Dr. Michelle Becka

    Und schließlich, weit über die Aufgabe der Gefängnisseelsorge hinausgehend: Wenn die Orte der Gesellschaft unten, draußen, am Rand als Andersorte theologisch relevant sind, wie es sich im Anschluss an Gaudium et spes begründen lässt, so bleibt die Theologie davon nicht unberührt. Denn wenn diese Ortsverlagerung wirklich stattfindet, dann sind die Aufgaben, die ich soeben der Gefängnisseelsorge zugeschrieben habe, selbstverständlich Aufgaben der Theologie und der Kirche insgesamt, die somit genötigt ist, vom Rand her zu denken und zu handeln. Und das Reden von Gott von den Andersorten her verhindert, dass die Theologie sich in ihren Räumen häuslich einrichtet und selbst Sicherheiten suggeriert, wo keine sind.

 

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