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Zeit als Gefängnisseelsorger ist Teil meiner Biografie

8. Februar 2020

Mit dem 31. März 2013 endete meine Tätigkeit als Seelsorger an der Justizvollzugsanstalt Köln. Unfreiwillig. Ende Dezember 2012 erfuhr ich von meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dass die Anstalt mich nicht länger als Gefängnisseelsorger halten könne. Diese Nachricht traf mich wie ein heftiger Schlag vor den Kopf. Im Januar 2013 fand ein Gespräch mit dem Verwaltungsleiter der JVA Köln statt, an welchem außer mir mein vorgesetzter Pfarrer und der Diözesanbeauftragte teilnahmen. Ziel dieses Gesprächs: mir einen ehrenvollen Abschied zu ermöglichen. Der Verwaltungsleiter wollte möglichst schnell mit mir Schluss machen, mein vorgesetzter Pfarrer wollte, dass ich Ostern noch Gottesdienste halten kann. So einigte man sich schließlich auf den Ostersonntag.

Im Jahr 2012 hatte es vier Vorfälle gegeben, an denen ich mich nicht korrekt verhalten habe. Zwei Kleinigkeiten (Sachen von einem Gefangenen zu einem anderen gebracht, einen Gefangenen wegen seines Verhaltens gewarnt), zwei Verstöße gegen Sicherheit und Ordnung (einer mir gut bekannten Gefangenen ein Telefonat direkt bei ihrer Ankunft in der JVA ermöglicht, eine Trennung übersehen). Mehrere Abteilungsleiter meinten auf meiner Verabschiedung, dass der letzte, kleinere Vorfall nicht zu meiner Abberufung hätte führen müssen. Ich hatte spätestens nach der übersehenen Trennung den Eindruck, dass ich beobachtet wurde und dass die Anstalt nach einem Anlass sucht, mich loszuwerden. Ich muss noch erwähnen, dass ich in meinem ersten Jahr in der JVA Köln dreimal aufgefallen war (zwei unerlaubte Telefonate und Mitnahme einer Bewerberin für die Gottesdienstgruppe zum Beisammensein der Gruppe) und mit dem seinerzeitigen Leiter von Sicherheit und Ordnung und mit der Abteilungsleiterin weibliche Jugendliche Gespräche hatte. Ich habe damals Einzelsupervision genommen, um zu klären, was mich veranlasst, gegen die Vorschriften zu verstoßen. Danach ist es einige Jahre gut gegangen.

Nach dem ersten Vorfall Anfang 2012 habe ich wieder Einzelsupervision genommen, nach dem zweiten Vorfall habe ich mich für den KSA-Kurs Gefängnisseelsorge in Bethel angemeldet. Und ich habe im letzten Jahr keine nicht genehmigte Telefonate mehr durchgeführt. Ich dachte, ich wäre auf einem guten Weg. Ich bin der JVA als Sicherheitsrisiko aufgefallen. Die Abteilungsleiterin, die mit mir das Gespräch nach dem letzten Vorfall geführt hat, war übrigens dieselbe Person, die 2006 die Abteilungsleiterin für die weiblichen Jugendlichen war. Die hatte wohl noch eine Rechnung mit mir offen. Gut meinende Kollegen meinten in meinem letzten Jahr an der JVA Köln zu mir, sie hätten den Eindruck, ich lege es auf einen Rausschmiss an. So viele Vorfälle in so kurzer Zeit seien doch nicht normal. Ich weiß definitiv, dass ich es nicht einen Rausschmiss provozieren wollte. Das habe ich mit Sicherheit nicht gewollt. Dafür habe ich meine Aufgabe als Gefängnisseelsorger viel zu gerne und mit viel zu viel Herzblut gemacht.

Ich habe im Laufe der ersten Jahre als Gefängnisseelsorger für mich erkannt, dass diese Tätigkeit, dieser Dienst an den Menschen, die ganz unten sind, meine Berufung ist. Meine Perspektive war: Wenn nicht gesundheitliche Gründe dagegen sprächen oder wenn ich nicht die Schnauze voll hätte, bis zur Rente im Knast zu bleiben. Im November 2005 habe ich meinen Dienst in der JVA Köln begonnen, im September 2021 gehe ich voraussichtlich in den Ruhestand. Und: Nach Vollendung meines 60. Lebensjahres würde die Personalabteilung mich nicht mehr gegen meinen Willen versetzen. Dann ist alles ganz anders gekommen.

Vielleicht war und bin ich zu gutmütig und zu naiv für den Umgang mit bedürftigen Menschen. Vielleicht habe ich den Menschen, das Geschöpf Gottes in dem Gefangenen gesehen und nicht den Tatverdächtigen oder den Straftäter. Vielleicht habe ich zu wenig die professionelle Distanz zwischen mir und dem Inhaftierten gewahrt. In der Tat habe ich die Nähe zu dem Menschen, der bei mir zum Gespräch war, gesucht, um ihm so zu vermitteln, dass Gott ihn nicht im Stich lässt, sondern ihn trotz allem liebt. Verzweifelte, weinende, emotional erstarrte Männer habe ich bisweilen in den Arm genommen, um ihnen das Gefühl zu geben, bei mir, im Büro des Seelsorgers, sind sie sicher, können sie reden, brauchen sie keine Angst zu haben.

Immer wieder habe ich dafür gesorgt, dass unsere Kirchenband proben kann, wenn die Kirche (der Probenraum) aus irgendwelchen Gründen gesperrt war. Ich habe für einen Gefangenen, der selbständig zweimal ein eigenes Projekt mit anderen Gefangenen durchführen wollte, die dafür nötige Unterstützung durch den Freizeitkoordinator bekommen. Gegen die Widerstände der Anstaltsleitung habe ich dafür gekämpft, dass wir einen Kirchenchor gründen konnten, eingeschränkt allerdings auf den Kreis der männlichen erwachsenen Untersuchungsgefangenen. Für jedes drei Hafthäuser, für das ich zuständig war, habe ich eine wöchentliche oder vierzehn-tägige Gesprächsgruppe eingerichtet. Das war nach Weihnachten 2012 auf einmal alles zu Ende. Ich kam mir vor wie ein Angeklagter, der keine Chance für seine Verteidigung bekam, der keine Chance mehr hatte, im KSA-Kurs an seinen Schwachpunkten zu arbeiten und eine gesunde professionelle Distanz trotz meines christlichen Menchenbildes hinzubekommen.

Was mich am meisten enttäuscht hat und immer noch traurig macht, ist die Tatsache, dass in meiner Personalakte beim Erzbistum Köln nicht e i n positives Wort über mein seelsorgliches Handeln in der JVA Köln, nicht e i n e Würdigung meines Dienstes als Gefängnisseelsorgers steht. Ohne jeden Kommentar ist das Schreiben der JVA, mit welchem der Erzbischof von Köln aufgefordert wurde, mich abzulösen, dort abgeheftet. Ich fand nur den E-Mail-Verkehr zwischen dem Personalreferenten und dem Diözesansprecher der Gefängnisseelsorger und meine E-Mails im Zusammenhang mit der Bewerbung für den KSA-Kurs sowie den Schriftverkehr im Blick auf meinen künftigen Einsatz und nicht zuletzt die Genehmigung der Kostenübernahme für diesen Zweijahreskurs. Hätte ich mich gegen den Rausschmiss wehren können oder müssen? Der Personalrat der JVA Köln war nicht zuständig, weil ich kein Bediensteter der JVA war. Die Mitarbeitervertretung der Gemeinde- und Pastoralreferenten (MAV) war nicht zuständig, weil Kollegen, die per Gestellungsvertrag in fremden Einrichtungen tätig sind, nicht wirklich vertreten werden können, da die besonderen Rechtsverhältnisse die Mitwirkung der MAV verbieten. Klar hatte ich meine Mitarbeitervertretung laufend informiert. Die konnten nichts für mich tun.

Kollegen, die mir ein paar Monate später im Ausbildungskurs für die Krankenhausseelsorge begegnet sind, meinten, ich wirke infolge dieser ganzen Geschichte wie traumatisiert. Ja, das ist das richtige Wort: traumatisiert. Ich habe mich nicht in Therapie begeben. Ich habe versucht, das Erlebte alleine zu verarbeiten. Ich habe einzelnen Freunden oder befreundeten Kollegen erzählt, dass ich weiterhin Kontakt zu einigen Inhaftierten oder Strafentlassenen habe, per Brief oder per Telefon. Den einen oder anderen Gefangenen habe ich schon im Knast besucht. Zu anderen Inhaftierten ist der Kontakt mit der Zeit eingeschlafen. Bei jedem Anruf, bei jedem Brief, bei jeder Begegnung auf der Straße und erst recht bei jedem Besuch in einer JVA brechen die Erinnerungen wieder auf. Ich bin für mich zu der Erkenntnis gekommen, dass diese traumatisierenden Erlebnisse und diese immer wieder unverhofft und plötzlich wiederkehrenden Erinnerungen zu mir und meinem Leben dazugehören. Dass ich damit leben muss. Dass ich damit leben möchte. Meine Zeit im Knast lässt sich nicht verdrängen. Ich will sie auch gar nicht vergessen. Sie gehört zu mir. Sie ist Teil meiner Biographie.

Nach meiner „Entlassung“ aus dem Seelsorgedienst in der JVA Köln habe ich unter anderem eine Recreatio gemacht. „Recreatio“ ist eine vierwöchige geistliche Auszeit, Langzeitexerzitien, die das Erz-bistum Köln ihren pastoralen Mitarbeitern etwa alle zehn Jahre anbietet, wenn sie vor einer neuen Auf-gabe stehen oder die nach einer längeren Zeit sich geistlich neu orientieren wollen oder die spirituell auftanken wollen. Während dieser Recreatio ging es mir vor allem um die spirituelle Neuorientierung. Leitfrage: Was ist meine Berufung? Es war klar, dass ich meine Berufung zur Gefängnisseelsorge, so wie ich in den Jahren im Knast herausgefunden hatte, nicht länger leben konnte. Welche Berufung liegt hinter dieser Berufung zur Seelsorge in der JVA? Ich habe wieder entdeckt, dass ich mich schon immer – auch vor meinem Theologiestudium und vor der Tätigkeit als Pastoralreferent – zu Menschen, die quer laufen, die keine gerade Biographie aufweisen, die aus der Rolle fallen, hingezogen gefühlt habe. Etwa in dem Umgang mit Jugendlichen, die nicht in das Klischee „gut bürgerliche Mittelschichtjugend“. Würde ich diese Berufung in der Krankenhausseelsorge und in der Offenen Jugendarbeit leben können?

Meine Erfahrung nach vier Jahren in den neuen Einsatzfeldern Krankenhausseelsorge und Gemeindeseelsorge: das ist nicht mein Traumjob. Ich bemühe mich, meinen Dienst an den Menschen im Krankenhaus und in der Gemeinde gut zu machen. Ich wollte und will ein guter Krankenhausseelsorger sein. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen und in der Ökumene. Und ich führe gerne Trauergespräche und leite gerne Beerdigungen. Aber ich bin nicht begeistert. Das heißt nicht, dass mir die Arbeit keine Freude macht. Aber es ist nicht meine Berufung. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich denn wirklich in der Gefängnisseelsorge am richtigen Platz war. Ich hatte immer wieder mal ein Problem mit der Findung der richtigen Distanz zu den Inhaftierten. Ich habe im ersten Jahr manchmal geglaubt, dieses freiheitsentziehende System JVA verändern zu können, indem ich die Grenzen auslote. Nach dem ersten Jahr musste ich einsehen, dass ich das System nicht verändern konnte. Ich habe versucht, meinen von Menschenfreundlichkeit und Christus-im-Gefangenen-Begegnen geprägten Dienst in der JVA Köln so gut es geht wahrzunehmen.

Das hat mich anfällig gemacht für die Versuche, mit meiner Hilfe mal die eine oder andere Vergünstigung zu erlangen, die im Alltag des Justizvollzuges so nicht vorgesehen ist. Vielleicht war ich nicht hart genug. Das sagte mir zumindest ein Bereichsleiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes bei meiner Verabschiedung. Ich war mit Leib und Seele – oder wie ich sage – mit Herz und Seele Gefängnisseelsorger. Das kann ich jetzt nicht mehr sein. Da wo ich jetzt Seelsorge mache, wo ich jetzt arbeite versuche ich, mein Bestes zu geben. Da gibt’s auch schöne Aufgaben. Aber es ist nicht dasselbe wie im Knast.

Robert Eiteneuer Printversion aus AndersOrt

 

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