Wer ist systemrelevant? Dieses Schlagwort geht mir in diesen Coronakrisen-Wochen nach. Tatsächlich frage ich mich dies auch im Hinblick auf die Kirche(n) und ihren Angeboten. Ich bekomme in den vergangenen Wochen, in denen auch öffentliche Gottesdienste ausfallen mussten, solche kritischen Anfragen: Offenbar sind Baumärkte und Autowerkstätten für den Erhalt unserer Gesellschaft relevanter als Gottesdienste und die persönliche seelsorgliche Begegnung?
So notwendig der Gesundheitsschutz ist, dem wir uns verpflichtet wissen, so sehr plagt mich auch die Erkenntnis, dass die Krise auch etwas offengelegt hat, was ich nicht gerne wahrhaben will: Für wirklich unverzichtbar halten manche die Kirche und ihre Angebote nicht. Natürlich stimmt die Behauptung, Gottesdienste und Gebet seien komplett ausgesetzt, so nicht. Viele Menschen haben im kleinen Kreis oder über die Medien Gottesdienst mitgefeiert, aber ein Dauerzustand kann das natürlich nicht sein. Und dass persönliche Seelsorge über Monate nur per Telefon stattfinden können soll, ist auf Dauer ebenfalls nicht akzeptabel.
Relevanz nicht allein durch öffentliche Gottesdienste
Jesus hält seine JüngerInnen für relevant, wenn er von ihnen als „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ spricht. Ich übersehe nicht, dass glaubende Menschen gerade auch in den vergangenen Wochen diesem Wort Jesu Gestalt gegeben haben. Relevanz mache ich nicht allein an den öffentlichen Gottesdiensten und der leibhaftigen Begegnung fest. Derzeit nimmt die Bergpredigt andere Gestalt an. Ich ermutige alle, kreativ zu bleiben, um Licht und Salz sein zu können. Das Evangelium bleibt relevant, wenn auch vielleicht nicht als einfaches Öl (oder Sand) im Getriebe, welchen Systems auch immer.
Erfahrung der scheinbaren Nutzlosigkeit
Es belastet mich darüber hinaus noch etwas Anderes. Zahllose Menschen bekommen zu spüren, dass sie und ihr Beruf derzeit nicht relevant für den Erhalt der Gesellschaft seien. Künstler und Kulturschaffende, Gastronomen und viele andere Menschen, deren Berufe derzeit ruhen müssen. Die Gründe sind mir klar, aber ich stelle mir vor, dass es eine neben der materiellen Seite auch existenzgefährdende Erfahrung ist, zu erleben, dass es im Ernstfall auch ohne mich gehen kann.
Auch das stimmt natürlich so einfach nicht, und auch der Verzicht auf viele Berufssparten darf kein Dauerzustand sein. Nicht nur alte Menschen, sondern auch viele andere gehen durch dieses Tal der Erfahrung der scheinbaren Nutzlosigkeit. Das rührt an die Menschenwürde, die ich genauso schützen will wie die körperliche Gesundheit. Ich sehe die schwierige Situation der politisch Verantwortlichen und teile sie in meinen Aufgabenbereichen.
Jeder Mensch ist relevant
Das ist die Botschaft des Evangeliums: Jeder Mensch ist relevant. Gerade in diesen Tagen will ich davon laut sprechen und an die Würde jedes einzelnen Menschen erinnern, die sich nicht allein, aber auch in seiner gesellschaftlichen Wertschätzung zeigt. In seiner Osterpredigt 2019 sprach Papst Franziskus von einem „unbändigen Kern der Schönheit“ in jedem Menschen. Ich hoffe und bete darum, dass wir diesen Kern der Schönheit nicht dauerhaft an der punktuellen Nützlichkeit festmachen. Dass die Kirche daran erinnert, erscheint mir wahrlich systemrelevant zu sein.
Bischof Dr. Peter Kohlgraf | Mainz