Die Autoren Wulf/Grube weisen im Kontext eines geläufigen Zitates auf Folgendes hin: „Es heißt: ‚Wenn man den Zustand eines Staates erkennen will, muss man in seine Gefängnisse gehen.‘ Dieses Wort lässt sich auf den Umgang mit sterbenden Gefangenen präzisieren. Ob und wie Gefangene im Gefängnis sterben, kennzeichnet die Sterbekultur in einem Land.“ Der Justizvollzug fungiert damit quasi als soziokulturelles Brennglas, durch das gesamtgesellschaftliche Herausforderungen besonders deutlich in den Fokus geraten. Dies ist bei der Suizidhilfe nicht anders.
* Der Aufsatz stellt eine Kurzzusammenfassung der gleichlautenden Monografie des Verf. dar und gibt ausschließlich dessen persönliche Meinung wieder.
Das Grundsatzurteil des BVerfG (E 153, 182) vom 26.02.2020 zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB a. F., der die geschäftsmäßige Suizidhilfe verboten hatte, hat die brisante Frage aufgeworfen, ob und inwieweit das darin ausdrücklich begründete Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben auch Gefangenen zusteht und den Staat in die Pflicht nimmt, dieses Recht ebenfalls im Justizvollzug zu gewährleisten, innerhalb dessen bisher faktisch kein akzeptierter Raum für Selbsttötungen oder gar Suizidhilfe besteht. Die Problematik gewinnt an Bedeutung, da Gefangene zunehmend altern, in Haft versterben und deshalb andere „Auswege“ suchen könnten.
Begriffserklärungen
Zunächst bedarf es aber einer Klärung zentraler Begriffe:
Suizidhilfe
In der gegenwärtigen Strafrechtsordnung ist der Suizid nicht unter Strafe gestellt, weil die §§ 211 bis 216 und 222 StGB die Tötung eines anderen Menschen voraussetzen. „Deshalb ist auch die Suizidhilfe als nicht tatherrschaftliche Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbsttötung grundsätzlich straffrei“.
Sterbehilfe
Von der Suizidhilfe ist insoweit die Sterbehilfe abzugrenzen. Begrifflich umschreibt die Sterbehilfe alle Sachverhaltskonstellationen, denen im Unterschied zur Suizidhilfe ein von Dritten beherrschtes Verhalten gemeinsam ist, welches ursächlich eine Lebensverkürzung bewirkt oder diese auf andere Weise fördert. Die Judikatur differenziert zwischen verschiedenen Anwendungsfällen straffreier Sterbehilfe, nämlich der indirekten Sterbehilfe als Inkaufnahme eines früheren unbeabsichtigten Todeseintritts bei einem sterbenden oder todkranken Menschen infolge einer medizinisch indizierten schmerz- oder in sonstiger Weise leidensmindernden Therapie und dem sogenannten Behandlungsabbruch als jede aktive oder passive Begrenzung oder Beendigung einer lebenserhaltenden oder -verlängernden medizinischen Maßnahme im Einklang mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen. Abseits dieser straffreien Fallgruppenbildung kommt die strafbare einverständliche Fremdtötung als Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB zum Tragen.
Essentialia von BVerfGE 153, 182
Folgende Kernaussagen des Urteils sind besonders relevant:
Leitsatz 1:
„a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“
b) „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
c) „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
„Aufgrund der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Selbsttötung […] verbietet es sich aber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit abhängig zu machen. Dies hindert nicht, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden können.“ (Rn. 340)
Leitsatz 6:
„Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“
Bisherige regulatorische allgemeine Entwicklung
Gesetzesinitiativen zur Suizidhilfe scheiterten bislang. Einzig ein Antrag zur Suizidprävention wurde angenommen. Die Vorschläge sahen Zugänge zu tödlich wirkenden Mitteln und verpflichtende Beratung vor. Während ein Entwurf eine neue Strafnorm schaffen wollte, zielte ein anderer auf ein Spezialgesetz zur Ermöglichung der Suizidassistenz.
Erste vollzugliche Erfahrungen in Deutschland: Fall „Kurt Knickmeier“
Seit über 36 Jahren inhaftiert, strebte Knickmeier einen assistierten Suizid an. Er argumentiert, dass er das Gefängnis nie lebend verlassen werde und daher das Recht habe, sein Leben selbstbestimmt mit fremder Hilfe zu beenden. Sein Antrag wurde jedoch von den Gerichten aus Sicherheitsgründen (er wollte sich mit Ballongas das Leben nehmen) abgelehnt. Der Fall wirft komplexe ethische und rechtliche Fragen auf, insbesondere hinsichtlich der Rechte von Strafgefangenen auf einen selbstbestimmten Tod.
Auffassungen zum Recht auf Suizidhilfe im Justizvollzug
Die bisher zu der Rechtsfrage, ob und inwieweit Suizidhilfe im Justizvollzug zulässig ist, vor der Grundsatzentscheidung des BVerfG, veröffentlichte spärlich vorhandene Literatur diskutierte das Thema erwartungsgemäß kontrovers, wobei ein Recht auf Suizidhilfe überwiegend aus Gründen des öffentlichen Interesses ausgeschlossen wurde. Mittlerweile nimmt diese Diskussion um freiverantwortliche Suizide aus Angleichungsgründen aber in Haft deutlich Fahrt auf, wenngleich das Risiko von unfreien Selbsttötungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht gesehen wird.
(Vollzugliche) Schranken
Neben Entweichungen und Missbrauch von vollzugsöffnenden Maßnahmen stellt der Suizid ein besonderes Vorkommnis dar, das den Vollzugsapparat erheblich belastet oder sogar in Misskredit bringen kann und auch bisweilen Fragen strafrechtlicher Haftung der Vollzugsbediensteten wegen Fürsorgepflichtverletzungen aufwirft, wenn Zweifel an der Freiverantwortlichkeit der Selbsttötung bestehen. Bei fehlenden Zweifeln könnte dem Suizidwunsch indes aus vorrangigen, sich aus dem Zweck der Strafe und der Freiheitsentziehung resultierenden Schranken die Folge versagt werden. Wenn dies verneint wird, stellen sich aber auch Fragen vollzugspezifischer Anforderungen an das vom BVerfG skizzierte „legislative Schutzkonzept“ zur Gewährleistung von Freiverantwortlichkeit und es müsste sorgfältig geprüft werden, wie die vom BVerfG angenommene Freiheit zur Suche und Annahme von Hilfe Dritter beim Suizid im Justizvollzug auch praktisch gewährleistet werden könnte.
Justizvollzug als „richtiger“ Ort zum Sterben?
Bevor auf die aufgeworfenen Fragen näher eingegangen werden kann, stellt sich die Grundsatzfrage, ob der Vollzug überhaupt ein „richtiger“ Ort zum Sterben ist. Eine Justizvollzugsanstalt (JVA) ist im Lichte der Menschenwürde und den vorhandenen Einschränkungen grundsätzlich kein Ort, um zu sterben. Vor allem nicht durch die Inanspruchnahme von Suizidhilfe, weil diese dem lebensorientierten Justizvollzug wesensfremd ist. Die nicht „autonomiefeindliche“ Suizidprävention im Justizvollzug sollte daher vorrangig formalgesetzlich gestärkt und standardisiert werden.
Kein absolutes Suizidverhinderungsgebot
Das Recht auf Suizidhilfe steht aus Angleichungsgründen mit der verfassungsrechtlichen Aufwertung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben jedoch auch Gefangenen zu, aber nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten im Justizvollzug. Suizidhilfe sollte daher in „Freiheit“ oder zumindest außerhalb des Justizvollzuges vollzogen werden (die JVA strebt dazu vollstreckungsrechtliche, gnadenrechtliche und vollzugliche Maßnahmen an); ansonsten gilt aber: Es kommt nicht so sehr darauf an, „wo“, sondern „wie“ man stirbt.
Gewährleistung von Freiverantwortlichkeit
Dabei gilt die Freiverantwortlichkeit als Kriterium für die straflose Suizidhilfe auch im Justizvollzug. Bei der Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, muss es sich um einen „Akt autonomer Selbstbestimmung“ handeln, was im Justizvollzug in den seltensten Fällen der Fall sein wird, sodass im Vollzug erhöhte verfahrensmäßige Anforderungen an die Fehlerfreiheit des Suizidwillens aufgrund haftpsychologisch bedingter Krisensituationen, die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit aufgrund erhöhter Prävalenz psychischer Störungen sowie die innere Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Suizidentschlusses aufgrund vollzugsspezifischer Lebenskrisen gestellt werden sollten.

Justizvollzugskrankenhaus (JVK) Fröndenberg in Nordrhein-Westfalen. Foto: Imago
Strafzwecke
Auch wenn sich die Frage über den Sinn des staatlichen Strafens immer wieder stellt, würde es den Rahmen dieser Ausarbeitung sprengen, sich detailliert mit allen vertretenen Straftheorien auseinanderzusetzen; vielmehr sind die unterschiedlichen Strafzwecke nach dem BVerfG in Gestalt des Schuldausgleichs, der Prävention, der Resozialisierung des Täters, der Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht gegeneinander abzuwägen. Nach wohl herrschender Lehre dürfen diese allgemeinen Strafzwecke auf dem Gebiet des Strafvollzugs allerdings nicht unmittelbar berücksichtigt werden, weil diese aufgrund einfachgesetzlicher Vorgaben auf die Erreichung des Vollzugsziels (positive Spezialprävention) und die Erfüllung der vollzuglichen Aufgabe des Schutzes der Allgemeinheit beschränkt seien (negative Spezialprävention). Bei der Berücksichtigung von allgemeinen Strafzwecken im Strafvollzug ist allerdings zwischen Status- und Gestaltungsentscheidungen zu unterscheiden, wobei bei ersteren auch allgemeine Strafzwecke berücksichtigt werden dürfen. Da durch die staatliche Duldung freiverantwortlicher Suizide der Status als Strafgefangener aufgehoben würde, wenn der Betroffene seinen Selbsttötungsentschluss vollzöge, handelt es sich bei der Duldung um eine Statusentscheidung.

Die Lebensälterenabteilung des Offenen Vollzuges der JVA Bielefeld-Senne. Foto: Friso Gentsch
Die positive Freiheit, selbstbestimmt über das Ende des eigenen Lebens durch Suizid zu entscheiden (das „Ob“), berechtigt als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter anderem zwar auch frei über den Todeszeitpunkt zu entscheiden (das „Wann“) und steht damit zumindest in Konflikt zu dem Vergeltungsgedanken. Vergeltung kann aber als ein Hauptzweck der Bestrafung angesehen werden, indem die Vorschriften im StGB zur Strafzumessung und zum Sanktionenrecht den gerechten Schuldausgleich als Strafzumessungsfaktor in den Vordergrund stellen. Auch die höchsten deutschen Gerichte betrachten den gerechten Schuldausgleich im Sinne einer „vergeltenden Vereinigungstheorie“ als Hauptzweck von Kriminalstrafen.
Dieser mit Verfassungsrang ausgestattete Strafzweck würde, abgesehen von medizinischen Härtefällen, konterkariert, wenn keine angemessene Mindestverbüßungszeit gelten würde. Ein über die Wahrung des Rechtsfriedens mittelbar gewährleisteter elementarer Rechtsgüterschutz ist –abgesehen von nachgewiesenen Härtefällen in extremer Notlage– abstrakt betrachtet prinzipiell nicht minder gewichtig wie das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die zeitliche Einschränkung dieses Rechts stünde zudem konkret in Relation zum jeweils verwirkten Strafmaß und wäre daher je nach Delikt von unterschiedlicher Dauer. Der Vergeltungsgedanke kann im Sinne einer Mindestverbüßungszeit allerdings nur solange Berücksichtigung finden, als der frühestmögliche Entlassungszeitpunkt noch nicht erreicht ist. Denn nach diesem Zeitpunkt ist der repressive Teil der Freiheitsstrafe verbraucht und die Inhaftierung erfüllt nur noch rein spezialpräventive Zwecke.
Sicherheit und Ordnung
Die eingesetzten Suizidmittel dürften keine Gefahr für die Sicherheit der JVA darstellen, sodass diese vorab durch die Anstalt zugelassen werden müssten. Zur Vermeidung von Haftungsrisiken erscheint eine audio-visuelle Dokumentation des Suizids trotz der Höchstpersönlichkeit des Sterbevorgangs erforderlich. Sogenannte Brutalsuizide dürfen zum Schutz der seelischen Gesundheit des Vollzugspersonals auch immer dann verhindert werden, wenn sie freiverantwortlich erfolgen. Um einen Interessenkonflikt des Vollzugspersonals zwischen der Fürsorgeverantwortung und der Respektierung des Selbstbestimmungsrechts zu vermeiden, sollte Suizidhilfe durch das Vollzugspersonal kategorisch ausgeschlossen sein und es sollte auch nicht über Suizidhilfebegehren entscheiden, um jeden Anschein einer „Todesstrafe“ durch die Hintertür zu vermeiden. Das Vollzugspersonal, das auch mit Suizidhilfe(-begehren) unmittelbar konfrontiert wird, muss aufgrund der psychischen Belastung psychosozial professionell besonders begleitet werden.
Fazit und Ausblick
Die Begründungslast für ablehnende Entscheidungen bei der Suizidhilfe im Justizvollzug hat sich durch die Aufwertung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben durch das BVerfG in seiner Suizidhilfeentscheidung vom 26. Februar 2020 aus Angleichungsgründen deutlich erhöht, jedoch darf dabei auch nicht die intramurale Lebensrealität vernachlässigt werden, die den assistierten Suizid stets vor allem als belastendes „soziales Beziehungsereignis“ auffassen wird. Aus diesem Grund muss auch ein Interessenkonflikt des Vollzugspersonals zwischen der Fürsorgeverantwortung und dem Selbstbestimmungsrecht vermieden werden, indem Suizidhilfe durch das Vollzugspersonal strikt ausgeschlossen ist (Trennungsprinzip). Zukünftige Gesetzgebung sollte die besondere Situation im Vollzug ausdrücklich berücksichtigen.
Dr. Philipp Stahlhacke | Leiter der JSA Wittlich





