Was bedeutet es für einen Menschen, der sich in der letzten Phase seines Lebens befindet, möglicherweise schwer erkrankt ist und sich als Häftling in einer Justizvollzugsanstalt befindet? Alexander M. ist 70 Jahre alt und leidet an einer Lungenerkrankung, er hat ein mobiles Sauerstoffgerät bei sich. Er muss noch eine Reststrafe von 3 Jahren absitzen. Das Atmen fällt ihm schwer, doch er ist engagiert in der Gesprächsgruppe der Gefängnisseelsorge. Der Offenburger Gefängnisselsorger Igor Lindner berichtet darüber.
Der Tag eines jeden Gefangenen, einer jeden Gefangenen beginnt mit der „Lebendkontrolle“. Der zuständige Beamte prüft beim Wecken, ob der Inhaftierte noch am Leben ist. Suizidprävention ist wichtig. Auffälliges Verhalten wird wahrgenommen, denn Versterben im Vollzug soll vermieden werden. Justizvollzugsanstalten (JVA) sind in der Regel (mit Ausnahmen) auf das Sterben im Vollzug als letztem Teil des Lebens kaum vorbereitet. Hinzu kommt eine Besonderheit, der Menschen in Freiheit nicht unterliegen: Betroffene dürfen nicht selbst entscheiden, wo und auf welche Weise sie ihre letzte Lebensphase verbringen möchten, denn sie unterliegen dem Freiheitsentzug. Das betrifft auch das Sterben.

Lebensälterenabteilung im Offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne. Foto: Friso Gentsch
Gnadenwege wären wünschenswert
„Wird bei einem/einer Gefangenen oder einem/einer Untergebrachten eine im Ergebnis lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert, so öffnen sich aus der Rechtsordnung drei Wege, dem Betroffenen eine Entlassung aus der Haft und damit die Gestaltung seines letzten Lebensabschnitts in Würde in Freiheit zu ermöglichen: „Die Entlassung auf Bewährung, Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit, Begnadigung“.* Eine Haftunterbrechung wird in der Praxis kaum gewährt. Das Verfahren ist oft langwierig und nach meiner Erfahrung die Ausnahme. Eine ärztliche Bestätigung des Anstaltsarztes bzw. der Anstaltsärztin über die Haftfähigkeit – so oder so – ist für die weitere juristische Entscheidung bedeutsam. Wenn das Urteil gar „lebenslänglich“ lautet (das bedeutet keineswegs eine automatische Entlassung nach 15 Jahren) oder (anschließende) „Sicherungsverwahrung“ (die Inhaftierung bis zum Tode ist möglich und geschieht auch), ist die vorzeitige Haftentlassung so gut wie ausgeschlossen. Es ist wünschenswert, wenn diese Gnadenwege offener werden und gerade auch bei älteren Gefangenen eine regelmäßige Überprüfung einer Amnestie ab 65 eingeführt würde, wie sie andere europäische Länder kennen.
Als Herr M. zunehmend schwächer wird, ruft mich die zuständige Vollzugsleitung an, ob ich nicht ein Hospiz kennen würde oder wohin sonst Herr M. verlegt werden könnte? Eine Verlegung dorthin scheitert, da keine Haftunterbrechung gewährt wird.
Spannung im Vollzug wahrnehmen
Im Vollzug sollen Sterben und Tod woanders stattfinden. Die Brisanz dieser medizinethischen Fragestellung wird weiter zunehmen, da die Anzahl älterer inhaftierter Menschen demografisch bedingt ansteigen wird. Die Zeitschrift für Palliativmedizin hat dieses erfreulicherweise aufgenommen; auch Praktiker aus dem Justizvollzug, der Straffälligenhilfe und der Gefängnisseelsorge beschäftigen sich mit der Fragestellung und suchen nach gangbaren Wegen, so auch bei der Anstaltsleitungsjahrestagung BVAJ 2025 mit dem Fachbeitrag „Recht auf Sterben in Haft?“, ebenso im Arbeitskreis Anstaltsleitung und Seelsorge.
Herr M. wird nach einem Anfall in ein Krankenhaus verlegt, mit einer 24-Stunden-Bewachung, was ich durch Zufall erfahre. Ich besuche Herrn M. dort und begleite ihn seelsorgerlich. Er wird beatmet, spricht nicht mehr und verstirbt dort.
Eine Justizvollzugsanstalt ist eine Behörde mit hohem Verwaltungsanteil und sicherheitsbetonter Struktur. Dem Sterben jedoch sind eigene individuelle Bedürfnisse zu eigen. Diese Spannung gilt es wahrzunehmen, sonst werden Sterben und Tod zum reinen „Verwaltungsvorgang“. Was also tun? Die Bildung eines palliativen interdisziplinären Begleitteams im Vorfeld ist zielführend. Zunächst ist der interne medizinische Dienst der JVA („Revier“) zuständig. Sterbende Menschen benötigen neben der medizinischen Versorgung Pflege, wofür die Reviere in der Regel kaum eingerichtet sind. Der externe Zugang von Pflegediensten oder die künftige Zulassung von sogenannten „Brückenschwestern“ wäre sicherlich sowohl im Sinne der Betroffenen als auch eine Entlastung für die Mitarbeitenden. Exemplarisch zitiere ich aus den internen Leitlinien der JVA Lübeck. Danach sei zuerst der Wille des/der Betroffenen zu respektieren und – wo immer möglich – zu erfüllen. Dabei sei die notwendige Würde bei allen Entscheidungen zu wahren.
Mögliche Wege
Die Möglichkeiten und Grenzen der Anstalt sind mit dem/der Betroffenen zu besprechen. Es ist zu klären, welche Wünsche erfüllt werden können, welche nicht. Ferner sind Angehörige, Freunde des/der Betroffenen einzubeziehen. Möglichkeiten von Besuch und Abschied sind großzügig zu gewähren. Die Besonderheit der Situation betrifft auch die Mitgefangenen. Auf ihre Fragen und Ängste ist in geeigneter Weise einzugehen. Von GefängnisseelsorgerInnen habe ich Beispiele gelungener Lösungen erhalten: Im Offenen Vollzug der Bielefeld-Senne gibt es eine „Lebensälteren Abteilung“ (LÄA), in der baden-württembergischen JVA Singen einen „Seniorenknast“, in einem Vollzugskrankenhaus (JVK) eine Hospizabteilung oder ein Palliativzimmer mit speziell geschultem Personal. Eine Verlegung dorthin bedeutet jedoch auch einen Sterbenden transportieren zu müssen. Manche möchten tatsächlich in ihrer gewohnten Umgebung sterben. Ein Hospiz-Team hat sich die Einübung einer wertschätzenden Grundhaltung gegeben, was im rauen Umfeld einer JVA eine Herausforderung bleibt. Hilfreich ist schließlich die Einbeziehung der Gefängnisseelsorge, die den spirituellen Charakter des Lebensendes aufnimmt. Sie gestaltet jetzt schon oft die Überbringung der Todesnachricht, die Ausbildung einer Abschiedskultur z. B. durch Trauerfeiern unter die Miteinbeziehung von Mitgefangenen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Gesprächsangebote
* Zitat aus dem Vorspann der „Leitlinien des Umgangs mit sterbenskranken Gefangenen und Untergebrachten“ vom 28.09.2022, (3pp). Sie wurden dem Autor mit freundlicher Erlaubnis von der JVA Lübeck zur Verfügung gestellt. Davon sind die Thesen 1, 2, 6 und 7 zur besseren Lesbarkeit kursiv zitiert. Verfasserschaft: LÜSSING, Gerhard (federführend), BOOGAART, van den, Hilde, MÜLLER, Silvia, PICHURA, Sarah, SANDMANN, Anja, ZEPKE-LEMBCKE, Martina). Herzlichen Dank auch allen Kolleginnen und Kollegen aus der Gefängnisseelsorge, die ihre Erfahrungen freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.
Igor Lindner | Titelfoto: JVK Fröndenberg, Imago
Editorial für die Zeitschrift für Palliativmedizin 03/25- Sterbende und unheilbar kranke Gefangene in Haft
Mit freundlicher Genehmigung: Thieme International Business