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Tränen sind das Grundwasser der menschlichen Seele

7. November 2025

Schon im Kindergarten konnte der spirituelle Autor Pierre Stutz in seinem Schweizer Ursprungsdorf Hägglingen Verstorbene besuchen, die zu Hause aufgebahrt waren, umgeben von Blumen und Kerzen. Erstmals hörte er als sechsjähriger Junge, dass im Aufbahrungszimmer eine kleine Fensterscheibe geöffnet blieb, damit die Seele zum Himmel fliegen konnte. Von diesem „Seelenfensterchen“ hörte er jedes Mal, wenn er als Messdiener einer verstorbenen Person zu Hause die letzte Ehre erweisen konnte. Im Newsletter berichte Stutz davon.

Die Vorstellung, dass die Seele wegfliegt, löste bei mir – natürlich noch sehr diffus – ein Unbehagen aus. Als ich mit 38 Jahren in meinem zweijährigen Burn-Out der mystischen Tradition begegnete, löste sich dieses Unbehagen nach und nach auf, weil schon Hildegard von Bingen mit großer Klarheit betont, dass wir eine Leib-Geist-Seele Einheit sind. Dann las ich 1997 das Buch „Anam Cara. Das Buch der keltischen Weisheit“ vom irischen Philosophen John O’Donohue, das mich bis heute nachhaltig befreit und prägt. Er schreibt: „Wir sollten diesen verfehlten Dualismus, der die Seele vom Körper scheidet, vermeiden. Die Seele ist nicht einfach im Körper verborgen in irgendeinem versteckten Winkel. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Der Körper ist in der Seele und die Seele durchdringt uns vollständig.“

Lieben heisst, nicht sterben

Dieser Bewusstseinswandel fasziniert mich. Er lässt sich auch bei Meister Eckhart entdecken. Auf die Frage, wohin die Seele gehe, wenn ein Mensch stirbt, antwortet der Mystiker aus Erfurt, dass sie an keinen Ort gehen kann, weil die ewige Welt schon immer hier ist. Um diese Überwindung eines dualistischen (=trennenden) Denkens, Fühlens und Betens geht es mir in all meinen Büchern. Diese große Sehnsucht, dass uns auch der Tod nicht von der Liebe zu einem Menschen trennen kann, entdeckte ich schon als junger Erwachsener in meinem klösterlichen Noviziat in Paris. Der französische Philosoph Gabriel Marcel (1889–1973), einer der führenden Vertreter des christlichen Existenzialismus, verdichtet meine tiefe Hoffnung: „Einen Menschen lieben, heißt ihm sagen: Du wirst nicht sterben.“

Verstorbene sind mit uns

Diese Worte habe ich handschriftlich auf ein großes, goldenes Blatt geschrieben und sie über meinem Bett aufgehängt. Sie waren abends und morgens meine Orientierung, auch in meiner Zeit als Bundesjugendseelsorger, in der ich manchmal schmerzhaft konfrontiert wurde mit dem Suizid von (suchterkrankten) Jugendlichen. Ein Leben lang möchte ich in ein Vertrauen hineinwachsen, dass wir wie Jesus von Nazareth im Leben und im Sterben in eine göttliche Liebe hineingeboren werden. Es ist ein Vertrauen, in dem wir Lachen und Weinen, Zweifeln und Hoffen nicht mehr voneinander trennen. Es bedeutet auch, ein Leben vor dem Tod (Frieden und Gerechtigkeit für alle) und ein Leben nach dem Tod nicht mehr zu trennen. Deshalb bin ich so dankbar für die Wegbegleitung so vieler lebender und verstorbener Menschen. Auch die Verstorbenen sind weiterhin mit uns, einfach anders.

Tränen sind Grundwasser der Seele

Kürzlich sagte ich zu meinem eigenen Erstaunen an einem Vortrag „Die Verstorbenen atmen weiterhin mit uns!“ Wie kann ich solche Worte aussprechen, da doch der Tod mit dem letzten Atemzug eintrifft? Ich kann es, weil ich oft erfahre, wie Verstorbene mich begleiten, auch in meinen Träumen und mich zum Vertrauen ins Leben bestärken. Auch mein Lebensgefährte Harald kann mir unerwartet bei einem Spaziergang im Wald oder in der Küche sagen, dass er unsere verstorbene Freundin Vreni jetzt gerade intensiv spürt. Von so einem beseelten Dasein, schreibt auch John O’Donohue: „Die Seele der Verstorbenen geht nirgendwohin, weil es keinen anderen Ort gibt, an den sie gehen könnte. Dies deutet darauf hin, dass die Toten hier bei uns sind, in der Luft, durch die wir uns ununterbrochen bewegen. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Toten ist der, dass sie sich jetzt in einer unsichtbaren Form befinden. Wir können sie mit unserem menschlichen Augen nicht sehen; wohl aber können wir die Gegenwart der Toten spüren. Mit den verfeinerten Sinnen unserer Seele können wir sie wahrnehmen, und dann wissen wir auch, dass sie wirklich bei uns sind.“ Es ist diese tiefe Verbundenheit, die uns dankbar werden lässt und die uns mit Schmerz und Trauer erfüllt. Sie bestärkt uns, uns eine lange Trauerzeit zu erlauben, damit wir mit Leib-Geist-Seele unsere Tränen fließen lassen. Tränen sind das Grundwasser unserer Seele. www.pierrestutz.ch

 

 

 

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