Während meines Dienstes als Gefängnisseelsorger Mitte der 90er Jahre stapelten sich in der Justizvollzugsanstalt Werl täglich Anträge von Inhaftierten, auf denen lediglich stand, dass sie ein „Gespräch dringend“ beantragen. Fragen, um was es da gehen könnte, wurden meist mit einem Achselzucken beantwortet samt Zusatz von Bediensteten: „Die wollen alle immer nur Tabak oder telefonieren“. Bei den Worten „immer alle nur“ wurde ich hellhörig. Das kannte ich zur Genüge als Pauschalabwehr und generellen Abwertung. Ich war unsicher, wie ich da eine sinnvolle, brauchbare und nützliche Auswahl und Arbeitsweise finden könnte. Also ging ich los und versuchte mein Glück. Vielleicht fand ich ja heraus, wie es gelingen könnte.
Zunächst sortierte ich die Anträge nach Abteilungen. Dann fragte ich mich durch, wo wer unterbracht war. Viele lagen auf Gemeinschaftszellen und noch im Bett, als ich gegen 10 Uhr an die Zellentür klopfte. Nachdem ich mich persönlich und mit meinem Anliegen vorgestellt hatte, wen ich aufsuchen wollte, hörte ich aus einer Ecke vielfach der Hinweis: „Kommen Sie später wieder; Sie sehen doch, dass ich noch schlafe.“ Wann dieses „Später“ sein könnte, habe ich nicht herausgefunden. Denn oft lagen die Männer auch noch spätnachmittags im Bett. Dass Menschen so viel und so lange schlafen können, hat mich all die Jahre gewundert, gar erschreckt. Schließlich wurden und blieben sie immer müder, statt jemals ausgeschlafen zu sein und initiativ zu werden. Bei diesen Versuchen fühlte ich mich wie ein Klinkenputzer, der stets vergeblich versucht, bei denen anzukommen, die mich angeblich haben wollten. Meist war das Anliegen tatsächlich ein Pack Tabak oder ein Telefonat mit Angehörigen. In der Rolle von jemand, der lediglich Spendierhosen vorzuführen braucht und andere als Bettler erlebt, war mir sehr unwohl. Da musste etwas anders werden. Doch hatte ich keine Ahnung, was und wie.
Gefangene vorführen lassen?
Nach wenigen Tagen – ich weiß nicht, wie viele Zellen ich schon gesehen hatte – sprach mich der Leiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes an. Er habe erfahren, dass ich die „Knackis“ auf ihren Zellen aufsuchte. Ich bestätigte das. Darauf er, sehr bestimmt: „Das ist hier nicht üblich! Wenn Sie mit einem der Gefangenen sprechen wollen, dann lassen Sie ihn sich vorführen.“ Ich: „Was heißt das?“ Er: „Dann rufen Sie den Stand (der anstaltsinternen Zentrale) an und sagen Bescheid, wen Sie sprechen wollen. Der wird Ihnen dann gebracht.“ Um mir den Ernst der Lage nahe zu bringen, fügte er im Weggehen hinzu: „In der Zelle können wir Ihre Sicherheit nicht garantieren!“ Mir war an einer gedeihlichen Zusammenarbeit gelegen. Entsprechend wollte ich mich an diesen „guten Rat“ halten. So rief ich beim „Stand“ an und erbat die Vorführung eines Inhaftierten. Nach einer Weile fragte ich nach, ob der Mann vorgeführt wird. Antwort: ich soll mich noch ein Wenig gedulden; es dauere etwas, weil zu wenige Leute da sind. Dieses „Wenig“ zog sich Stunden hin; kein Inhaftierter wurde zu mir gebracht. Nachfragen beim Stand ergaben fast stereotyp die Antwort: „Wir haben keine Leute; anderes ist wichtiger.“
Das machte ich einen Tag mit. Dann ging ich wieder auf die Abteilungen und suchte die Antragsteller auf. Recht schnell wurde ich erneut zur Rede gestellt, dass das in der JVA Werl „nicht üblich“ sei; ich solle mich bitte an die geltenden Regeln halten. In mir kochte etwas hoch. Bestimmt und nicht sehr freundlich gab ich zurück: “Da mir trotz etlicher Nachfragen beim Stand nicht ein einziger Inhaftierter vorgeführt worden ist, werde ich nicht mehr darauf warten, sondern meine Arbeit so erledigen, wie es mir möglich ist!” Was dem folgte, ließ mich noch wacher werden, als ich es bereits geworden war. Saß ich mal bei einem Inhaftierten auf der Zelle, wobei ich als Erkennungszeichen „vorschloss“, so dass jeder Beamte sah: da ist jemand drin, wurde blitzschnell und ohne Blick in die Zelle die Türe verschlossen. Meist gingen die Zellenbewohner „auf die Ampel“ oder schlugen laut gegen die Tür. Sie hatten schneller als ich erfasst, welche „kollegiale Freundlichkeit“ mir da zu Teil wurde. Es dauerte recht lange, bis die Türe wieder aufgeschlossen wurde, wobei die Beamten die Inhaftierten barsch zurechtwiesen wegen des überflüssigen Krachs und verwundert taten, mich auf ein-mal zu sehen.
Den Seelsorger zurechtbiegen?
Bald hatte ich den Eindruck, hier wird mir System beigebracht. Nachdem mir Äußerungen zugetragen waren, dass man mir „noch zeigen werde, wo der Weg langgeht“ und sie würden mich „schon noch zurechtbiegen, damit ich weiß, wo ich dran bin“, habe ich die „schließenden Kollegen“ zur Rede gestellt und sie gebeten, erst in die Zelle zu schauen, ehe sie die abschließen; das geschehe sonst ja wohl auch, wenn ich richtig informiert bin. Einige hatten verstanden, andere trieben ihr Spiel weiter. Darum ging ich zu deren unmittelbaren Vorgesetzen, dem Hausdienstleiter, beschwerte mich und bat um Abhilfe. Seitdem war es „üblich“, dass ich in die Zellen ging. Bald wurde es „üblich“, dass Angehörige von Fachdiensten, ja sogar Abteilungsleiter Gleiches taten. Der Glaube, dass jemand in der JVA meine „Sicherheit garantieren“ würde, hat sich nicht eingestellt. Eher die Gewissheit, dass ich gut daran tue, auf der Hut zu sein und mich so zu schützen, wie mir möglich war.
Manches ereignete sich geradezu kunterbunt und nebeneinander her. Hinzu kamen verwirrende Erlebnisse. Um an erste Informationen zu gelangen, wollte ich, sooft es ging, an der Abteilungskonferenz teilnehmen. Die angegebene Zeit wurde selten eingehalten. Später begann diese Konferenz derart ungenau, dass ich mich nicht mehr imstande sah, dafür Stunden herumzustehen und zu warten. Da war es weniger zeitraubend, den „Obergefreiten-Dienstweg“ zu beschreiten und diesen oder jenen Kollegen anzusprechen. Zunächst wollte ich zeigen, dass ich lern- und kooperationswillig war. Was mir entgegenkam, war das gerade Gegenteil. Zumindest erlebte ich es als glatte Verweigerung und Missachtung. Sobald ich den Konferenzraum betrat, wurde mitten im Wort ein anderes, unerhebliches Thema angesprochen, begann ein schallendes Gelächter, mit dem etliche im Raum nichts anzufangen wussten; stand das alles entscheidende Thema “Wetter“ auf der Tagesordnung. Nach etwa drei Monaten, in denen ich dieses Theater wahrgenommen und über mich habe ergehen lassen, war für mich das Maß voll. Da stimmte etwas nicht. Und ich wollte her-ausfinden, was das war, um meine Konsequenzen darauf zu ziehen. So war ich nicht bereit, mit mir umspringen zu lassen.
Ernst Lauven
Geboren 1933, seit 1961 im priesterlich-seelsorglichen Dienst des Erzbistums Paderborn in mehreren Gemeinden sowie in der Kur-, Krankenhaus- und Strafvollzugsseelsorge bis 1996. 1974 Beginn der pastoralpsychologischen Weiterbildung in Klinischer Seelsorge-Ausbildung (KSA), 1987 Anerkennung als Pastoralsupervisor DGfP/KSA. Seit 1999 Lehrsupervisor DGfP/KSA sowie Mitarbeit in den Pastoralkursen im Erzbistum Köln.
Von 1987 bis 1996 arbeitete er in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl. Er war Mitglied im ehemaligen Arbeitskreis kritischer Strafvollzug e.V. Lauven wohnt seit seinem Ruhestand 1996 in Köln.
Mit Klarheit agieren
Einen Sicherheitsinspektor, der bereits einige Male hilfreich Klartext mit mir gesprochen hatte, schien mir der richtige Ansprechpartner zu sein. Also bat ich ihn um ein Gespräch, das einige Zeit dauern könnte. Zunächst erläuterte ich ihm, dass mir sein bisheriges Verhalten Mut macht, ihn mit dieser Angelegenheit zu behelligen. Gradheraus sagte ich ihm, dass ich in der JVA nicht willkommen bin, mir weithin Informationen verweigert wer- den, ich mir oft vorkomme, als liefe ich vor eine Mauer des Schweigens und der Fehlinformation, was ich ihm mit Fakten belegte. „Wenn das so bleibt, dann bleibe ich nicht. Ich bin in den Strafvollzug gegangen, weil ich die Arbeit für sinnvoll, erforderlich und auf Zukunft gesehen wegweisend erachte. Sollte es sich lediglich um einen kräfteraubenden Zeitvertreib handeln, gehe ich.“ Der Mann, den ich bis zu meinem Weggang sehr geschätzt und gemocht habe, wenn sich unsere Wege später auch nur selten kreuzten, rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rauf und runter, schluckte kräftig, wirkte bänglich und verwirrt. Dann sagte er etwa: „Tun Sie das ja nicht. Wir sind so froh, dass Sie da sind und Ihre Arbeit so erledigen, wie Sie es tun. Bleiben Sie bitte.“
Darauf ich: „Dann will ich wissen, was hier los ist und gespielt wird. Noch läuft die Probezeit. Morgen kann ich weg sein. Und ich werde gehen, wenn sich nicht entscheidend was ändert. Ich will wissen, wo ich hier dran bin.“ Er, ein wenig kleinlaut: „Dann muss ich Ihnen etwas sagen, was nicht leicht fällt: „Die Seelsorger in der JVA gelten als das Sicherheitsrisiko Nr. 1.“ So blöd, wie ich da ausgeschaut habe, war gewiss ein Bild mit Seltenheitswert. „Können Sie mir das genauer sagen?“ – Das konnte und tat er. Es braucht gegenseitiges Vertrauen. Eben nicht nur als Tabakverteiler zu fungieren, sondern Seelsorger für die Inhaftierten und die Bediensteten zu sein. Und das mit aller Klarheit: Kritisch und authentisch sowie sich selbst schützend.
Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire