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Sich im Umgang mit dem Fremden verändern lassen

26. Dezember 2021

Es gibt nicht nur zwischen den verschiedenen Konfessionen innerhalb des Christentums, sondern auch zwischen den Weltreligionen bedeutsame Unterschiede in den Glaubenskonzeptionen. So steht die christliche Erlösungstheologie in einem deutlichen Gegensatz zur Karmalehre im Buddhismus oder Hinduismus, der die Erlösung ganz in die Verantwortlichkeit der Gläubigen stellt. In diese Sinne bewegt sich die Seelsorge in den verschiedenen Weltreligionen zwischen nach innen gerichteten Zielsetzungen und interkulturellen und interreligiösen Ansprüchen und Aufgaben. Aber auch die christliche Seelsorge ringt um ihre Positionierung gegenüber der seelsorglichen Begleitung in anderen Religionen und damit um ihr Selbstverständnis.

Vor diesem Hintergrund sind die Kirchen gefordert, Seelsorge mit den aktuellen Bedürfnissen und Erfordernissen in Beziehung zu setzen und ihre Seelsorgekonzepte und -angebote auf die Bedürfnislagen zu überdenken. Jedoch sind es nicht nur unterschiedliche Glaubensvorstellungen, sondern vor allem auch unterschiedliche Werthaltungen, welche die christliche Seelsorge vor Herausforderungen stellen. Diesen Gedanken möchte ich an einem praktischen Beispiel illustrieren. Im Seelsorgegespräch konfrontiert ein muslimischer Mann seinen Seelsorger mit der Frage, was der Koran dazu sagt, wenn er sich von seiner Ehefrau scheiden lässt, weil sie keine Kinder bekommt. Aufgrund seiner Kinderlosigkeit werde er auch von seinen Eltern sehr stark unter Druck gesetzt. Dabei könnte dieser Mann am Ende des Gesprächs mit dem Seelsorger zum Entschluss gegen die Scheidung kommen, da er nach islamischem Recht Anspruch auf eine Zweitfrau erheben kann.

Interreligiöser Dialog

Sowohl in den jüdischen als auch in den christlichen biblischen Schriften lesen wir wiederholt von ungewollter Kinderlosigkeit: bei der Mutter Simsons, bei Sara, der Frau Abrahams, bei Hanna, der Mutter Samuels, bei Rahel, der Ehefrau Jakobs und bei Elisabeth, der Frau des Priesters Zacharias, der Mutter von Johannes dem Täufer. Wie das Beispiel von Abraham, Jakob und den Königen David und Salomo zeigt, war es im alten Orient durchaus üblich, mehrere Frauen und Nebenfrauen zu haben. Diese Wertvorstellungen haben sich in der westlichen Kultur des Christentums gewandelt. Demnach dürfen Mann und Frau nicht in einer neuen Verbindung wie Eheleute zusammenleben.

So bleiben aus der Sicht der römisch-katholischen Kirche geschlossene Ehen bestehen, auch wenn sie vom Staat „geschieden“ werden. Da Geschiedene und Wiederverheiratete im Zustand einer schweren Sünde leben, sind sie bis heute von der Kommunion ausgeschlossen. Aufgrund ihrer christlichen Werthaltung würde die christliche Seelsorge im genannten Fallbeispiel in der Begleitung wohl den Fokus darauf legen, die Beziehung der Eheleute zueinander un auch gegenüber dem Einfluss der Eltern zu stärken. Möglicherweise würde die Begleitung ebenfalls dazu führen, sich mit der Bedeutung von Unfruchtbarkeit sowohl im eigenen Leben als auch in der Ehe in irgendeiner Form auseinanderzusetzen. Das Beispiel wirft Frage auf, nach welchen Wertmassstäben SeelsorgerInnen im interreligiösen Dialog handeln?

Sensibilität erforderlich

Nach welchen Massstäben gewichten sie Werte wie Ehe und Fruchtbarkeit? Seelsorge arbeitet auf der Basis verinnerlichter Perspektiven der eigenen Glaubenstradition. Kommt es zu einer interkulturellen Begegnung, erfordert dies einen Perspektivenwechsel. Wo unterschiedliche Wertesysteme aufeinandertreffen, da begegnet unweigerlich das Toleranzproblem. Dieses postuliert, auf normativer Ebene Divergenzen auszuhalten und das Konträre in die eigenen Überzeugungen zu integrieren. Doch wie lässt sich ein solcher Anspruch realisieren? Fordert er z.B. von der christlichen Seelsorge, sich mit dem Phänomen der Zweitehe zu arrangieren und in der seelsorglichen Begleitung der Frau auf deren Zustimmung hinzuwirken? Oder sollte die christliche Seelsorge, falls sie ein solches Handeln ablehnt, die Begleitung gar abbrechen und die muslimische Seelsorge hinzuziehen?

Oder liegt die Lösung des Toleranzproblems darin, kulturelle und religiöse Grundsätze in der Seelsorge durch universelle Normen zu ersetzen? Oder sollte das Toleranzproblem besser dadurch umgangen werden, dass im Seelsorgegespräch über sogenannt „wertneutrale“ oder „unverfängliche“ Themen gesprochen wird? Impliziert Seelsorge in pluralen Gesellschaften gar die Selbstaufgabe? Im Gegenteil. Der geforderte Perspektivenwechsel erfordert nicht, von eigenen Überzeugungen abzurücken. Jedoch erfordert die Seelsorge in einer pluralen Gesellschaft eine gewisse Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und eine Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen, sozialen Gefügen, Rollen und Kommunikationsmustern anderer Religionen. So vollzieht sich die Seelsorge in der Spannung zwischen Konfessionalität und Öffnung nach aussen.

Seelsorge als Gegenüber

Wie Martin Buber in seinem Werk „ich und du“ festhält, entsteht Mitgefühl mit dem Schmerz des Andern nicht aus der Vorstellungswelt der eigenen Erfahrungswelt, sondern dadurch, dass die individuelle Erfahrung des Gegenübers als die ihm zugehörige erfahren wird. Diese Vergegenwärtigung in der Ich-Du-Beziehung kann aus seiner Sicht nur in einem Distanzierungsprozess erfolgen. Erst die Distanzierung macht den Menschen dazu fähig, sich neben dem eigenen Ich die unabhängige Welt des Du überhaupt vorzustellen zu können. Wie Emmanuel Lévinas‘ Holocaust-Erfahrung zeigt, kennt die Geschichte grausame Kapitel der gewaltsamen Vernichtung der Andersheit. Aus dieser persönlichen Betroffenheit heraus sucht Lévinas einen ethischen Weg, der bei der Andersheit beginnt, in ihr aber nicht die Abweichung vom Selben sieht, sondern ihr eine ganz andere Weise zu sein zugesteht. In seiner Geschöpflichkeit ist der Mensch immer schon auf den Anderen bezogen, was nach Lévinas eine Verantwortung für diesen impliziert.

Wie die Bibel anhand des Barmherzigen Samariters oder der Erzählung von Rut und ihrer Schwiegermutter Naomi andeutet, findet in der hinwendenden Begegnung zum Andern eine Entgrenzung von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit statt. Dabei rückt das zwischenmenschliche Geschehen in der interkulturellen seelsorglichen Begegnung in den Fokus, das bedeutet die Person des Seelsorgers als Gegenüber. Dabei sind sowohl Seelsorgende als auch Seelsorgeempfänger von individuellen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, von Meinungsbildungsprozessen und auch von Stimmungen geprägt.

Ethische Werterhaltungen

Aus meiner Sicht kommt deshalb im interreligiösen Dialog den Narrativen eine besondere Bedeutung zu. Denn sie sind zentral dafür, wie wir unsere Identität konstruieren, wie wir unsere Zugehörigkeit zu unserer Kultur und zum Fremden definieren. Deshalb halte ich es im pluralistischen Kontext der Seelsorge für wichtig, eigene Lebensentwürfe sowie das eigene Rollenverständnis als SeelsorgerIn im Kontext kirchlicher und konfessioneller Erwartungen zu reflektieren, um sich dann mit dem Selbstverständnis des Andern oder des Fremden auseinanderzusetzen. Dabei bedarf es einer Sensibilisierung für Wertungen und Erwartungen, wo der eigene Glaube unbewusst in die Wahrnehmung des Andern hineinfliesst. In diesem Sinne halte ich Authentizität als eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Seelsorgegespräche im interreligiösen Kontext. So bedeutet Respekt für das Andere auch, eigene Antworten und Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Wie Georg Wenz treffend festhält, gerät in der Seelsorge das sich-dem-anderen-Aussetzen aber auch an seine Grenzen.

So teile ich seine Überzeugung, dass Seelsorge fremdreligiöse rituelle und liturgische Handlung nicht leisten kann. So heisst interreligiöse Seelsorge auch, sich der eigenen Grenzen des Handelns bewusst zu sein, damit sie authentisch bleiben kann. Das bedeutet, dass kein Muslim das Abendmahl austeilen und die katholische Krankensalbung vornehmen und kein Christ das Kaddisch beten oder den Koran rezitieren kann. In diesem Sinne wird die Seelsorge beim Einschliessen transzendierender liturgischer Rituale an ihre Konfession gebunden bleiben. Gemeinsam ist allen Weltreligionen, Philosophien und Weltanschauungen, dass die Grundfrage des Menschseins nach dem, wohin wir gehen und wer wir sind, über die verschiedenen Generationen jeweils im Hier und Jetzt beantwortet werden muss. Obwohl die spezifisch religiösen Deutungen der elementaren existentiellen Probleme in der postmodernen Gesellschaft immer mehr in den Hintergrund treten, haben die von den Religionen propagierten ethischen Werthaltungen wie Barmherzigkeit und Mitgefühl in der postmodernen Gesellschaft unverminderte Gültigkeit.

Wenn Menschen im Umgang mit Krisen, schwerer Krankheit oder mit Leid konfrontiert sind, das sie anderen Menschen zugefügt haben, dann suchen auch nichtreligiöse Menschen bis heute Antworten in den Weltreligionen. In diesem Sinne haben GefängnisseelsorgerInnen eine wichtige und herausfordernde Aufgabe. Ich wünsche ich Ihnen Mut, Grenzen zu überwinden, authentisch zu bleiben und sich immer wieder im Umgang mit dem Fremden verändern zu lassen. Gesamter Vortrag…

Dr. phil. cand. Dr. theol. Regula Gasser | Vivamus Health Consulting GmbH
Vortrag bei der Alpenländertagung von Gefängnisseelsorgenden aus Bayern, Schweiz und Österreich

 

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