parallax background

Sexualmoral und Überhöhung des Klerus verursachen Leid

8. September 2023

Die katholische Kirche steckt in einer großen Vertrauenskrise – vor allem als Folge des Skandals um sexualisierte Gewalt. Für das Bistum Essen wurde im vergangenen Februar eine sozialwissenschaftliche Aufarbeitungsstudie veröffentlicht, die erforscht hat, was sexualisierte Gewalt im Bistum Essen durch Kleriker und andere Mitarbeitende unterstützt hat. Die Ergebnisse der Studie haben entsprechende Strukturen, Verhaltensmuster und Fehler von Verantwortlichen aufgedeckt.

Was seither passiert ist, um Schritte der Veränderung anzustoßen, und wie das Essener Bistum mit etwas zeitlicher Distanz auf die Ergebnisse schaut, darüber hat Maria Kindler vom Magazin „Akzente“ der Mülheimer Katholischen Akademie Die Wolfsburg mit Generalvikar Dr. Klaus Pfeffer gesprochen.

Herr Pfeffer, Sie haben in den letzten Monaten viele Gespräche in Pfarreien, in Städten und in Gremien über die Ergebnisse der unabhängigen sozialwissenschaftlichen Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen geführt. Welche Erfahrungen und Begegnungen waren für Sie hierbei besonders eindrücklich?

Die zweifellos wichtigsten Momente waren, als Betroffene sexueller Gewalt von ihren Erfahrungen berichteten. Es ist etwas völlig anderes, ob aus einer medialen oder wissenschaftlichen Distanz über die Missbrauchsfälle in der Kirche berichtet wird oder ob einzelne Menschen sehr konkret davon erzählen, was sie erlitten haben. Da war es in den Veranstaltungen völlig still, vielen stockte der Atem. Was die Studie beschreibt, wurde da plötzlich an einem konkreten Menschen sichtbar: Ein Priester nutzt seine Sonderstellung, seine sakrale Überhöhung schamlos aus und das missbrauchte Kind hat keinerlei Chance, zu entkommen. Niemand glaubt ihm, weil der charismatische Priester so etwas wie einen Heldenstatus genießt.

Nach der Veroeffentlichung des Gutachtens der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl WSW im Erzbistum Muenchen und Freising am 20.1.2022 zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche protestieren Katholiken, Missbrauchsbetroffene und Vertreterinnen verschiedener Kircheninitiativen mit Plakaten, Kerzen und einer Mahnwache vor der Residenz des Essener Bischofs. Ein Plakat stellt die Katholische Kirche als Darknet dar. Fotos: Imago

Mich haben die Gespräche der letzten Wochen sehr bewegt, weil ich den Eindruck habe, dass derzeit eine Atmosphäre in unserem Bistum wächst, in der immer mehr Menschen sich unserer eigenen Bistumsgeschichte stellen und dabei die vielen Zusammenhänge und Verstrickungen erkennen. Endlich wird sichtbar, dass unter dem Deckmantel einer katholischen Un-Kultur mit vielen Tabus, mit einer rigiden Sexualmoral und einer Überhöhung des Klerus furchtbares menschliches Leid verursacht wurde. Darüber zu sprechen und nichts mehr zu verschweigen oder zu beschönigen, ist ein ganz wichtiger Teil der Aufarbeitung. Denn so wächst auch eine gemeinsame Haltung, dass unsere Kirche wirklich anders werden muss, damit nie wieder ein solches Leid im Raum der Kirche geschehen kann.

Seit der Veröffentlichung der sozialwissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Essen im vergangenen Februar ist nun schon einige Zeit vergangen. Wie schauen Sie mit etwas Distanz auf die Ergebnisse und auf die Empfehlungen, die das Institut für Praxisforschung und Projektberatung dem Bistum Essen quasi als Hausaufgaben mitgegeben hat? Welche Ergebnisse halten Sie für besonders relevant und was hat Sie am meisten überrascht?

Die sozialwissenschaftliche Studie gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie denn die furchtbaren Verbrechen eigentlich möglich waren und was jetzt getan werden muss, dass es künftig keine sexuelle Gewalt mehr gibt. Natürlich wirft die Studie auch in unserem Bistum den Verantwortlichen auf Bistumsebene eklatante Versäumnisse und schwere Fehler vor. Gerade in der Ära von Kardinal Franz Hengsbach wurden Täter geschützt und Betroffene ignoriert.

In fahrlässiger Weise sind Missbrauchstäter einfach nur versetzt worden, so dass sie weitere Verbrechen begehen konnten. Die Studie lenkt aber auch den Blick in Gemeinden, in denen es durchaus Beobachtungen oder gar auch ein Wissen gab, dass Priester sich grenzverletzend verhielten. Und nicht zuletzt haben sich die Wissenschaftler auch mit der Priesterausbildung beschäftigt und stellen sehr kritische Anfragen an die Ausbildung, vor allem aber auch an die Verpflichtung zum zölibatären Leben. Kurzum: Wir müssen unsere eigene Bistumsgeschichte deutlich kritischer betrachten und uns von einer Idealisierung der ersten Jahrzehnte verabschieden – gerade auch von der Überhöhung des Gründerbischofs Kardinal Hengsbach.

Die Empfehlungen zur Priesterausbildung halte ich für besonders wichtig – und verbinde damit zugleich die Aufforderung, das Priesteramt in unserer Kirche neu zu definieren. Die sakrale Überhöhung muss verschwinden. Der Verzicht auf die zölibatäre Lebensform sowie die Öffnung des Weiheamtes für beide Geschlechter wären dabei ein wichtiger Schritt.

Und für unsere Kirchengemeinden werden wir unsere Präventionsbemühungen weiter entwickeln müssen – es braucht eine gemeinsame Haltung der Achtsamkeit und Wachsamkeit. Nur wenn wir uns in Fragen von Prävention und Intervention weiter professionalisieren, können Kinder und Jugendliche in Zukunft bestmöglich geschützt werden und eine Kultur der Aufmerksamkeit weiter gestärkt werden.

Die Priesterausbildung und das Priesterbild werden in der Studie grundlegend angefragt. Auch Sie sind Priester. Wie können Sie in Ihrer Rolle authentisch für Veränderungen stehen?

Natürlich weiß ich um eine gewisse Befangenheit, weil ich selbst Priester bin und von daher natürlich aus meiner Perspektive heraus denke und urteile. Aber aufgrund meiner persönlichen Lebenserfahrungen, vor allem aber auch angesichts der Einblicke in die Abgründe des Missbrauchsskandals, weiß ich um die vielen Verzerrungen, Überhöhungen und vor allem auch ernsthaften Gefahren, die der Priesterberuf in seiner derzeitigen Gestalt mit sich bringt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich der Priesterberuf in vielerlei Hinsicht radikal verändern muss. Dafür stehe ich ein und dafür engagiere ich mich.

Wo sehen Sie die wichtigsten Verbindungen zwischen der sozialwissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie und dem Reformprojekt Synodaler Weg, mit dem so große Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen in der katholischen Kirche verbunden sind?

Es sind die gleichen Verbindungen, die am Anfang des Synodalen Weges standen und von den Erkenntnissen der großen MHG-Studie ausgingen: Auch in der Studie wird deutlich, dass die kirchliche Sexualmoral, das priesterliche Amtsverständnis, die Machtfragen, die Geschlechtergerechtigkeit und viele andere Aspekte der „katholischen Kultur“ nicht nur auf den Prüfstand müssen, sondern auch der Veränderung bedürfen. Die Gespräche, die ich in den letzten Monaten und Jahren geführt habe, zeigen mir immer deutlicher, wie zentral all diese Themen sind. Denn das, was ich „katholische Kultur“ oder besser „Un-Kultur“ nenne, hat ja weit über den Missbrauchsskandal hinaus bei noch viel mehr Menschen unendliches Leid ausgelöst.

Dieses kommt jetzt zunehmend zur Sprache: Ältere Leute berichten manchmal immer noch voller Scham von dem, was sie in Beichtstühlen erleben mussten, wenn Priester ihnen eine rigide Sexualmoral aufdrängten. Und diese Sexualmoral hat es vielen Generationen sehr schwer gemacht, frei und psychisch gesund zu leben. Wie viele KatholikInnen mussten ihre Beziehungen verheimlichen, um ihren kirchlichen Arbeitsplatz nicht zu verlieren? Das Leid all derer, die mit ihrer sexuellen Identität oder Orientierung von der katholischen Norm abwichen, ist erst in der jüngsten Vergangenheit öffentlich geworden und braucht sicher noch viel Aufarbeitung. Diese Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden – leider.

Woraus speist sich Ihre Hoffnung, dass die Kirche sich wirklich verändern kann? Viele Gläubige haben die Hoffnung ja inzwischen verloren und haben der Kirche den Rücken gekehrt, auch im Bistum Essen.

Die Hoffnungslosigkeit bei vielen Katholikinnen und Katholiken kann ich verstehen, weil ich selbst manchmal auch zu resignieren drohe, wenn ich die Erstarrung in manchen Teilen der katholischen Kirche wahrnehme. Die offiziellen römischen Reaktionen auf den Synodalen Weg sind dabei von einer erschreckenden Ignoranz für die Realität in unserem Land geprägt. Da hagelt es in einem monarchischen Sprachstil längst vergangener Zeiten fast ausnahmslos nur Verbote und Belehrungen, mit denen in Beton gegossen werden soll, was eigentlich schon jetzt gar nicht mehr Realität in der Kirche vor Ort hier bei uns ist.

Aber das macht mich dann auch wieder gelassen: Eine solche Kirche hat keine Zukunft. Was aber sehr wohl Zukunft hat, das ist die Botschaft Jesu Christi: Es wird weiterhin Menschen geben, die sich vom Glauben an Gott, wie ihn Jesus verkündet und gelebt hat, begeistern lassen – innerhalb unserer katholischen Kirche und genauso in den anderen christlichen Kirchen, mit denen wir ökumenisch verbunden sind. Es gibt sie in großer Zahl auch in unserem Bistum und ich bin sehr froh, dass wir mit unserem Bischof alles daransetzen, unsere Kirche offen, weit und menschenfreundlich weiterzuentwickeln. Am Ende wird sich der Geist Jesu Christi durchsetzen – da bin ich mir ganz sicher – und unsere Kirche neu werden lassen.

Interview aus dem Magazin Akzente 02/2023 der Katholischen Akademie Die Wolfsburg
Mit freundlicher Genehmigung von Maria Kindler, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
Ich bete für Dich.de

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert