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Selbst schuld? Sprengkraft über alle Mauern hinweg

11. Januar 2023

Selbst schuld. Das habe ich als Gefängnisseelsorger auf dem Hohenasperg bei Stuttgart immer wieder gehört. Und danach bekam ich immer wieder den Satz zu hören: „Die Aidskranken können einem schon leidtun, aber eigentlich sind die doch selbst schuld.“ Wer an seinem Unglück selbst schuld ist, der hat eigentlich keine Hilfe verdient. Selbst schuld. Dieses Urteil ist leicht fertig, leicht sinnig.

Ich kenne einige, die gnadenlos den Stab über „Solche“ gebrochen haben, bis sie in der eigenen Familie selbst betroffen waren. Selbst schuld. Was maßen Menschen sich an, so hartherzig über andere zu urteilen!? Was wissen sie denn von dem Straftäter, der schwere Schuld auf sich geladen hat? Keiner wurde als Verbrecher geboren. Jede Straftat hat eine Vorgeschichte. Und die fängt bei den meisten schon in der Kindheit an. Es geht nicht um Ent-schuldigung. Schließlich gibt es auch Menschen, die trotz schwerster Kindheit anständige Bürger geworden sind. Dennoch gibt es oft einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Biografie. Die meisten Gefangenen, die wegen Körperverletzung inhaftiert sind, wurden als Kind selbst geschlagen, verprügelt, misshandelt. Der Geschlagene wird zum Schläger.

Halter für Schreibgeräte an einer Fensterkralle eines Haftraumes.

Wer versteht, verurteilt nicht

Nach dem Motto: „So wie andere mit mir umgegangen sind, gehe ich mit ihnen um.“ Wie du mir, so ich dir. Das ist nicht immer so, aber allzu oft werden Opfer zu Tätern. Das Leid, das sie in ihrer Kindheit durchlitten haben, fügen sie eines Tages anderen zu, unschuldigen Opfern. Wenn ich weiß, was manche als Kind durchgemacht haben, wundere ich mich nicht, dass sie gestrauchelt, gefallen, straffällig geworden sind. Wenn ich den Werdegang eines Menschen kenne, kann ich verstehen, warum dieser so geworden ist. Verstehen heißt nicht entschuldigen. Aber wer versteht, verurteilt nicht. Viele Straftaten wurden durch andere mitverschuldet. Da ist es schwer, die Schuld des Täters zu messen. Wie groß ist die Schuld des Schlägers, der von Kindesbeinen an gelernt hat, dass man sich nur mit den Fäusten durchsetzen kann?

Anders handeln können?

Wie groß ist die Schuld der Frau, die ihren Mann mit der Bierflasche erschlug, als er wieder einmal besoffen auf dem Sofa lag? Zwanzig Jahre lang hat er sie geschlagen, drangsaliert und ihr sexuelle Gewalt angetan. Mit der Zeit hatte sich in ihr so viel Wut, Ohnmacht, Hass angestaut, dass sie in dem Moment vielleicht gar nicht anders konnte, als ihren Peiniger zu erschlagen. Das Gericht verurteilte die Frau zu sieben Jahren Haft. Ihre Schuld wird vorausgesetzt, obwohl sie eigentlich erst hätte bewiesen werden müssen. Das Strafrecht geht davon aus, dass die Täterin die Straftat aus freiem Entschluss gewählt hat. Sie hätte anders handeln können, wenn sie nur gewollt hätte. Schuld setzt Willensfreiheit voraus, das heißt: Jemand begeht eine Tat, obwohl er die Möglichkeit hat, es nicht zu tun. Natürlich wird niemand zu einer Straftat gezwungen, trotzdem kann von einer „freien Tat“ nicht ohne weiteres die Rede sein.

Gelernt zurückhaltend zu sein

Manche sind so arm, dass sie aus Not Straftaten begehen. Der Hunger (der Familie) lässt ihnen kaum eine andere Wahl, als zu stehlen. Drogenabhängige können ihre Sucht nicht legal finanzieren, dazu ist der Stoff viel zu teuer. Zwangsläufig kommen sie mit dem Gesetz in Konflikt. Auch wenn jeder Mensch in Prinzip einen freien Willen hat, so ist dieser in vielen „Fällen“ doch erheblich eingeschränkt. Deshalb ist die Schuld des Täters als Grundlage für die Strafzumessung oft ein sehr wackeliges Fundament. Seine Schuldanteile sind oft so eng mit der Mitschuld anderer verknüpft, dass sie nur schwer gemessen werden können. Ich habe im Gefängnis gelernt, in der Schuldfrage sehr zurückhaltend zu sein. Denn ich weiß, wie leicht ein Mensch schuldig werden kann und wie schwer es unter Umständen ist, nicht schuldig zu werden. Ich fälle kein Urteil, auch nicht bei Tötungsdelikten.

Provokantes Evangelium

Das letzte Urteil über einen Menschen bleibt dem vorbehalten, der ganz anders urteilt – der Ganz-Andere. Seine Liebe gilt allen Menschen, bedingungslos, ohne Wenn und Aber. Egal was ein Mensch verbrochen hat, in Gottes gütigen Augen ist er immer noch liebenswert, wert, geliebt zu werden. Auch der schlimmste „Fall“ kann nicht aus der allumfassenden Liebe Gottes herausfallen. Auch der Kindesmörder ist und bleibt ein geliebtes Kind Gottes. Im Gefängnis habe ich erst kapiert, wie unglaublich provokant, skandalös der Glaube an einen allgütigen Gott ist, was für Sprengkraft das Evangelium enthält: Es sprengt die Mauer zwischen Guten und Bösen, zwischen Schuldigen und Unschuldigen. Der Sprengsatz: Liebe. Liebe fragt nicht nach Schuld. Aus Liebe helfen wir auch Menschen, die ihr Leid selbst verschuldet haben. Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte, über alle Mauern hinweg, die wir Menschen zwischen uns hochziehen.

Petrus Ceelen | Aus: Was ich Euch noch sagen wollte, S. 74-76

 

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