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Sehnsucht nach Weite ohne Festschreibungen

13. März 2023

Vor 15 Jahren geriet ich an einem späten Abend in einer Leipziger Kneipe unversehens in eine Begegnung, die mich tief angerührt hat. Aus ihr kam ich verwandelt hervor. Damals war in mir viel auf der Suche nach Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit. Es war ein Aufbruch aus festgefahrenen Gewohnheiten, ein Raustreten aus dem, wie etwas zu sein hat, ein Outing.

Heute weiß ich, dass so ein Aufbruch, der vieles verändert, aus einem Einbruch entsteht, aus dem im Innern sich öffnen, dem Zulassen dessen, was lange tief versteckt war, aber auch ein Zulassen des Zerbrechens so mancher Fassaden und eigener sowie fremder Erwartungshaltungen. Das Auftauchen lassen aus der Tiefe lässt den Schritt in die Weite wagen. So beschreibe ich jene mir so kostbare Erfahrung. Es ist, wie an einem Brunnen in die Tiefe schauen und auftauchen lassen, was auch immer kommt. Mut gehört dazu und die Absicht, tatsächlich neue Wege zu gehen. Aus jener Begegnung ist eine wunderbare Freundschaft geworden. Außer Krieg können wir Menschen nämlich auch noch Freundschaft!

Die Botschaft ist nie einseitig und sitzt nicht im Entweder-oder, sie ist bunt und vielfältig und wirkt im Sowohl-als-auch. Ob der Mensch in der Fußgängerzone dies genauso meint?

Sehnsucht nach mehr…

Es sind Erfahrungen wie Brunnenerlebnisse: der Durst treibt hinaus, der Sehnsucht Raum gebend, und dann, am Brunnen, das Hinunterspüren in die Tiefe, ohne Gewissheit, wann endlich Wasser erreicht ist zum Schöpfen, dabei ganz wach da mit allen Sinnen – alles getragen in der Ahnung, von dort unten komme, was Weisung bedeutet. Eindrucksvoll erzählt das Johannesevangelium eine solche Brunnenerfahrung: die Frau aus Samarien und Jesus aus Nazareth, sie begegnen einander in der Mittagsstunde, Wendezeit des Tages, und sie erzählen von ihrem Durst, der sie suchen und begegnen lässt über die Grenzen der Geschlechter, Volkszugehörigkeiten und Religionen hinweg. Und dann sagt Jesus zu der Frau: „In dir sprudelt das Wasser unendlichen Lebens“. Lass diesen einen Satz in dir wirken, und du hast die ganze Botschaft Jesu verstanden!

Begegnung wird zum Brunnenerlebnis

Die Brunnen sind da, wo Menschen einander begegnen in ihrem Durst nach Leben und einander hörend auftauchen lassen, was es braucht. Manchmal können unsere Begegnungen überraschend zu Brunnenerlebnissen werden; es braucht nur eine wache und wertschätzende Aufmerksamkeit füreinander. Das Schöpfen in der Tiefe geschieht dabei nicht außerhalb im Erreichen von irgendetwas, sondern im inneren Zulassen von dem, was schon da ist in der Tiefe. In unserer Kirche haben Machtgehabe und Missbrauch längst viele Menschen mit ihrem Durst nach Leben das Weite suchen lassen; Brunnenerlebnisse sind selten geworden innerhalb kirchlicher Räume.

Doch zum Glück ist Gottes Wirken nicht an einen menschlichen Zugriff gebunden: seine lebendige „ruach“, die schöpferische, tanzende, befreiende Kraft, wirkt trotzdem – und durchdringt sogar jene so genannten Naturgesetze, einst von führenden Männern der Kirche erlassen, die die Geschlechter voneinander trennen in Mann-sein und Frau-sein samt allen Festschreibungen, wer wie da zu sein hat und wem zu gehorchen habe. Die „ruach“ weht seid Erschaffung des Menschen, denn Gott selbst hatte dem Erdklumpen seinen Atem eingehaucht. Diese göttliche Bewegung ist nie festzumachen oder in den Griff zu bekommen, sie ist nie einseitig und sitzt nicht im Entweder-oder, sie ist bunt und vielfältig und wirkt im Sowohl-als-auch. Wer in den Begegnungen aus solchen Brunnenerlebnissen schöpfen möchte, mache sich stets neu auf und wage den tiefen Einstieg bis hin zu jenem Wasser, das sprudelt zu unendlichem Leben.

Christoph Kunz

 

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