Für die Menschen gibt es das nicht: schattenloses Glück. Es ist nicht menschenmöglich, dass alles Zuträgliche vorhanden ist und alles Abträgliche fehlt. Das reine Glück ist nicht von dieser Welt. Glück gibt es außer in seltenen kurzen ekstatischen Momenten immer nur neben dem Unglück, trotz des Unglücks, im Unglück. Es besteht Grund zur Sorge, dass, wer diesen elementaren Befund nicht in Rechnung stellt, weil er einem Unmöglichen nachjagt, seine Glücksfähigkeit verspielt: die Tüchtigkeit der Seele zum menschenmöglichen Glück.
„Am Morgen säe deinen Samen, und lass deine Hand bis zum Abend nicht ruhen; denn du weißt nicht, was geraten wird, ob dies oder das oder beides miteinander gut gerät. Es ist das Licht süß; und die Augen freuen sich, die Sonne zu sehen. Denn wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und denke an die finsteren Tage; denn es werden viele sein. Denn alles, was kommt, ist vergeblich.“ (11,6-8) „Es ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne geschieht. Und dazu ist das Herz der Menschen voll Bosheit, und Dummheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben, und danach müssen sie sterben. So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies gefällt Gott. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupt die Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, so lange du das vergebliche Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe. Alles, was dir vor die Hände kommt, das tu mit deiner Kraft; denn bei den Toten, zu denen du fahren wirst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.“ (9, 3-10). „Hör zu, was ich als gut, was ich als schön erkannt habe: dass einer esse und trinke und Gutes sehe bei all seiner Mühe; womit er sich abmüht unter der Sonne, die Zahl seiner bei seiner Mühe zu freuen, eine Gabe Gottes. Und Gott stimmt ihr bei.“ (5, 17-19).
Aber das Unglück ist nicht weg zu blenden. Es ist höchstens zu relativieren. Aber geht das? Und wie soll das gehen? Wie kann etwas so Unrelativierbares wie das Unglück relativiert werden? Die altertümlich radikal christliche Antwort geht so: in der Welt ist das Unglück in der Tat so unrelativierbar da, dass es nicht in der Welt, sondern nur mit dieser Welt relativiert werden kann. Relativiert werden also muss diese Welt selber mit ihren Unglücksbefunden und ihrer zentralen Unglücksursache, der Sünde, zugunsten einer Welt des Heils, die der göttliche Erlöser verheißt. Hier leben wir im Jammertal, aber im Himmel soll es besser werden. Hier dominiert das Unglück, dort im Paradies triumphiert das Glück. Diese Antwort bekommt ihre Schwierigkeiten durch den modernen Absolutheitsgewinn der Diesseitswelt. Das Unglück kann nicht mehr mit dieser Welt relativiert werden. Es kann nur noch gelingen, das Unglück in dieser Welt zu relativieren. Hier gibt es einen Versuch, den ich für bedeutsam halte. Er stammt aus dem Umfeld der „Theodizee“, des Unternehmens also der Rechtfertigung eines guten und allmächtigen Schöpfergottes angesichts der Übel in dieser Welt. Dieser Versuch scheint mir einige anthropologische und lebenspraktische Bedeutung zu haben. Leibniz sagt: „Der Schöpfer der Natur hat die Übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiret“. Das ist auch der Grundgedanke von Kohelet. Das Unglück wird durch Glück ausbalanciert, indem glückliche Momente Erfahrungen des Unglücks ausgleichen und diese Ausgewogenheit selbst gelungenes Leben – Glück im Unglück – ist. „Wer Kummer hat, hat auch Likör“ – meistens jedenfalls. Zwar gibt es Unglück, das nicht kompensierbar ist, keine Frage, und manche Kompensation verdeckt auch das Unglück nur, das geheilt werden müsste. Insgesamt aber trägt dieser Gedanke unserer Menschlichkeit in ihrer Relativität Rechnung. Wir sind fürs absolute Glück nicht gemacht. Wir sind fehlbar, irrtumsanfällig, das Mängelwesen, das Kompensation durch Entlastung erzwingt, das immer etwas „statt dessen“ tut. Wir altern und schieben den Tod auf und genießen so das Glück, noch einmal davon gekommen zu sein. Wir kommen meistens so einigermaßen zurecht. Einiger – maßen. Leben mit dem guten Maß; und manchmal ist die Mittelmäßigkeit als rechtes Maß für die Mitte auch gar nicht so schlecht. Vielleicht reicht das ja. Glück im Unglück, nicht immer das absolute Glück der Party, sondern das Vizeglück eines alltäglichen Mittwochs. Mag man das auch für Skepsis oder herbstliche Resignation im Wonnemonat Mai halten (der heute ja leider ziemlich verregnet ist). Es ist heitere Skepsis oder skeptische Heiterkeit, und es scheint mir jedenfalls barmherziger zu sein als die Forderungen nach Glück, Glücksversprechen, Perfektionszwänge und am Ende uneinlösbare Glücksansprüche, die uns Menschen unnötig unter Druck setzen. Utopisch-prophetische Überhitzung abgekühlt auf ein gutes Maß durch einen Hauch Kohelet. Es gibt kein Recht auf Glück. „Denn mit den Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch“, sagt der milde Goethe in seinem Gedicht „Grenzen der Menschheit“. Und ich lasse Freud ergänzen:“ Die Absicht, dass der Mensch `glücklich` sei, ist im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen. Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns…“. Wir sollten daher das Glück nicht beabsichtigen. Es scheint manchmal auf als unintendiertes Beiprodukt in der Bewältigung von Aufgaben, die uns das Leben stellt. Wenn Karl Popper sagt, alles Denken sei Problemlösen, ist dies sicher sehr pauschal; hier aber ist es angebracht. Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen. Wie gut, dass wir Menschen uns aufs Krückenbauen verstehen. Wir sind Meister im Bau von Lebens-Prothesen. Es ist ein Glück, dass sich diese Krücken meistens als sehr alltagstauglich erweisen. Und es ist auch ein Glück, sich am Leben in all seinen Beschränkungen und Mühen und mit all seinen Krücken freuen zu dürfen. Denn so gefällt es Gott. Ich wünsche Dir nicht ein Leben ohne Entbehrung, ein Leben ohne Schmerz, ein Leben ohne Störung. Was solltest Du tun mit einem solchen Leben? Ich wünsche Dir aber, dass Du bewahrt sein mögest an Leib und Seele. Dass einer Dich trägt und schützt und Dich durch alles, was Dir geschieht, Deinem Ziel entgegenführt. Dass Du unberührt bleiben mögest von Trauer, unberührt vom Schicksal fremder Menschen, das wünsche ich Dir nicht. So unbedacht sollte man nicht wünschen.
Ich wünsche Dir aber, dass Dich immer wieder etwas berührt. Es heißt Gnade. Man kann sie nicht wollen, nicht erzwingen, aber wenn sie Dich berührt, dann weißt Du: es ist gut. Ich wünsche Dir nicht ein Leben ohne Mühe und ohne Herausforderung. Ich wünsche Dir aber, dass Deine Arbeit nicht ins Leere geht. Ich wünsche Dir die Kraft der Hände und des Herzens. Dass hinter Deinem Pflug Frucht wächst, Brot für Leib und Seele und dass zwischen den Halmen auch die Blumen nicht fehlen. Dass Deiner in Kraft seine Kraft ist, das vor allem, das wünsche ich Dir.
Andacht über Verse aus dem Buch des „Prediger Salomo“, gehalten auf der Konferenz der Evangelischen Gefängnisseelsorge in Deutschland am 10. Mai 2023 | Hauke Faust, JVA Duisburg-Hamborn
Prediger Salomo und seine Lebenseinstellung, seine Erkenntnisse und Beobachtungen
Ich betone das deshalb, weil zu den größten Gegnern und Konkurrenten der Gefängnisseelsorge die großen Glücksversprecher und Glücksforderer gehören; nicht nur in der Werbung, sondern auch in der umfangreichen Ratgeberliteratur im Fernsehen und anderswo, die nicht nur den Gefangenen, sondern uns allen einreden, die Arbeit müsse immer Spaß machen, Freizeit müsse immer erfüllend sein, jeder Orgasmus astronomisch, jeder Kick und jeder Kauf noch nie dagewesen, die Kinder selbstverständlich wohlgeraten, die Ehe zu jeder Zeit glücklich, das Leben insgesamt immer erfolgreich. Und ich gestehe, manchmal möchte ich es selbst auch glauben. Dann frage ich auch: Wie kann ich mein Lebensglück optimieren? Wie kann ich ein noch erfüllteres Dasein haben? Und dann werden Techniken zur Erreichung dieses Ziels angepriesen, die im Grunde immer darin bestehen, Glück und Unglück auseinander zu reißen und das Unglück weg zu blenden.Relativieren
Ausbalancieren
Gutes Maß
Kein Recht
Segenswünsche nach Worten von Jörg Zink
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