Inhaftierten ist oft die Erfahrung einer liebevoll umsorgenden Familie in ihrer Kindheit fremd geblieben. Manche haben ungeheuer viel Missachtung erfahren, wurden gedemütigt, geschlagen und missbraucht. Das hat bleibende Folgen in den Straftaten und nicht zuletzt im Bild von einem selbst. Die meisten Zellen in einem Gefängnis haben keinen oder einen ziemlich demolierten Spiegel. Wenn es einen gibt, der einigermaßen heil bleibt, ist der Spiegel aus irgendeinem blinkenden Blech. Den kann man nicht so leicht zertrümmern. Dieser zeigt aber nicht die Wirklichkeit.
Im Spiegelersatz zeigt sich einem beim Hineinschauen ein eher undeutliches, verschwommenes Bild seiner selbst. Hat die Justiz kein Geld, um die Zellen mit anständigen Spiegeln auszustatten? Es ist kein Problem der Finanzen. Die fehlenden oder demolierten Spiegel sind das Ergebnis mangelnder Selbstannahme. Sie sind Zeugen der Flucht vor sich selbst. Die meisten Inhaftierten können und wollen sich nicht mehr klar im Spiegel sehen. Zu hart ist die Konfrontation. Einfach unerträglich, was da hochkommt: So viel Hass, so viel Abscheu und Wut auf sich selbst und auf alles. Auch im Gesprächszimmer der Gefängnisseelsorge gab es früher einen Wandspiegel. Manchmal hab ich Männer in einem vertraulichen Gespräch gefragt, ob sie den Mut hätten, sich mal eine Weile vor diesen Spiegel zu stellen und sich dabei ins Gesicht zu schauen. Nur wenige haben sich getraut, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Und die meisten haben es schon nach kurzer Zeit abgebrochen. Was da alles so hochkam beim Anblick des eigenen Angesichts! Für die meisten war das zu mühsam, zu schwer, zu unerträglich, um dem länger standzuhalten.
Sich seiner Geschichte stellen
Ja, es ist wirklich kein Kinderspiel, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Im Gegenteil: Für die meisten von uns ist es eine ziemliche Zumutung, sich selbst in die Augen zu schauen. Es ist nicht leicht, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Es ist mühsam und es braucht Mut, sich selbst auf die Spur zu kommen. Und es kostet viel Kraft, bei sich auszuhalten, vielleicht sogar mit sich ins Reine zu kommen. Wer sich selber im Spiegel ansieht, der tut das, so scheint mir, selten mit einem gütigen Blick. Unser Blick auf das eigene Spiegelbild ist meistens sehr kritisch. Und dieser kritische Blick sieht sofort den Mangel und die Defizite. „O Gott, wie seh´ ich denn aus!?“ Und: Wo kann ich mich sehen lassen mit all meinen Macken, mit meinen Bruchlandungen, meinen Sackgassen, mit all dem, was unansehnlich, ja sogar abschreckend ist an mir und meinem Leben?
Ich bin mir sicher: Sie kennen diese bittere, oft so beschämende Wahrnehmung der eigenen Gedanken und Gefühle. Der Blick der Selbstanklage und Selbstverurteilung – auch und gerade hinter einem nach außen oft coolen und scheinbar ungerührten Auftreten. Wie sehr prägt uns diese Wahrnehmung: Wenn wir uns und unser Leben betrachten, wenn wir uns anklagen und verurteilen, wenn wir uns schämen für all das, was wir nicht geschafft, was wir angerichtet oder versäumt haben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was uns das Evangelium da heute zumutet: Jesus im Zwiegespräch mit den neunmalklugen und superfrommen religiösen Autoritäten seiner Zeit. Ihre Fangfrage nach dem wichtigsten Gebot angesichts der Unübersichtlichkeit unzähliger religiöser Weisungen und Gesetze. Jesus besteht auf der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe: Wer liebt, lebt und handelt wie Gott. Wer den Menschen Liebe erweist, der liebt auch Gott.
Lieben, wenn ich mich selbst anklage?
Und dann jener Hammersatz kurz vor Schluss. Jesus selbst bringt sie ins Spiel: die oft überlesene, oft zu wenig bedachte Basis – Erfahrung der Selbstliebe. Sie ist Voraussetzung, sie ist Bezugs- und Vergleichspunkt liebenden Handelns: So wie dich selbst sollst Du den Nächsten lieben. Wie uns selbst – so sollen wir unserem Mitmenschen begegnen. Aber: Wie oft hat man Selbstliebe als Egoismus diffamiert und gebrandmarkt! Was also soll das sein: recht verstandene und gelebte Selbstliebe? Und: Wie geht das, wenn wir so wenig mit uns selbst im Reinen sind, wenn wir uns kaum annehmen, kaum wertschätzen und schon gar nicht „lieben“ können? Wenn ich mich selbst anklage und verurteile, wenn ich mich schwer tue, mein brüchiges ICH mit Güte anzunehmen, wie will ich dann meinen Nächsten lieben? Wenn ich kaum in den Spiegel schauen kann, ohne mich zu verurteilen, welchen Blick habe ich dann erst auf andere? Wie will ich gütig sein zu meinem Nächsten, während ich hart und gnadenlos mit mir selber bin?
Was aber macht es so schwer, uns anzunehmen – so wie wir sind? Warum sind wir oft so streng und so unbarmherzig mit uns selbst? Ja, es ist alles andere als einfach, mit den Brüchen des eigenen Lebens, mit der eigenen Schwachheit und Halbheit zu leben. Und es ist überhaupt schwierig, mit der Endlichkeit des Lebens fertig zu werden. Endlichkeit nicht nur in dem Sinn, dass unser irdisches Leben begrenzt ist. Begrenzt ist auch jedes unserer Vorhaben und Projekte, jedes Denken und Wissen, all unsere Stärke, unsere Schönheit und Kraft. Es ist schwer, mit diesen Grenzen zu leben und mit der ständigen Angst, zu kurz zu kommen, sich selbst zu verlieren und unterzugehen. Unser Gespür für den Mangel erzeugt immer auch die Sorge, als Mensch nicht akzeptiert und nicht geliebt zu werden. Das kann zu Resignation führen. Oder zu Ersatzhandlungen, mit denen wir Mangel und Unansehnliches kompensieren.
Dann geht es ständig darum, den eigenen Selbstwert aufzupolieren: durch Leistung, durch Anhäufung von Besitz, durch körperliche Fitness und Schönheit, durch Lustgewinn, durch Drogen oder was auch immer. Ich will etwas haben – jetzt und hier und ohne Verzug. Glücklich und ansehnlich bin und werde ich nur, wenn ich etwas vorzuweisen habe. So muss jeder Mangel und jede Schwäche vertuscht, verachtet und ausgemerzt werden. Nur die Starken werden durchkommen und gewinnen! Eine solche Lebenseinstellung hat fast immer schlimme Folgen. Wir kennen sie alle: Hartherzigkeit sich selbst und anderen gegenüber, Neid und Eifersucht, Rücksichtslosigkeit, Missgunst, Gewalt und Intrigen. All das ist uns nicht fremd – hier im Knast, aber auch draußen. Auch die vielen Formen der Depression, Angst und Neurosen, auch die völlige Selbstaufgabe… All das hat hier mögliche Ursachen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.“ Das sagt Jesus als erstes, als er nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird.
Vertraue deiner leisen Stimme
Aber was heißt das: „Gott lieben“? Ich glaube unter anderem dies: Bei allem, was dir im Leben an Mangel, an Mühsal und Leid begegnet, könnte der Grund der Welt doch gut sein. Lass also stets die Möglichkeit offen, dass diese Welt nicht alles ist. Und dass es mehr als alles geben kann – für dich und für uns alle. Irgendwo in dir ist diese Stimme Gottes, die spricht: „Aus Unrecht schaffe ich Recht, aus Unheil Heil, aus Tod Leben.“ Vertraue dieser sehnsüchtigen, manchmal ganz leisen Stimme. Gib dich dem Leben hin, nicht den Kräften des Todes. Und träume den Traum von dem Land, wo die Misshandelten zu ihrem Recht kommen, wo der Blinde sehen, der Lahme gehen kann und wo die Toten leben. „Gott lieben“ bedeutet: den Versuch wagen, trotz allem Leid unter dieser Verheißung vom guten Ausgang aller Dinge zu leben. Wer dies wagt und sich im gütigen Blick eines Gottes birgt, der das Zerbrochene ansieht und heilt, der muss nicht mehr so viel Angst haben, sich selbst zu verlieren.
Ich verlasse mich darauf
Der muss nicht verzweifeln im Anblick der Brüchigkeit und der Unvollkommenheit der eigenen Person und des eigenen Lebens. Wer dem Versprechen Gottes von der Vergebung Glauben schenkt, der kann sogar mit Schuld leben. Wer glaubt, dass Gott das Leben rettet, der braucht sich nicht selber zu retten. Wer glaubt, dass es der Blick der Güte Gottes ist, der uns Menschen schön macht, der ist befreit von dem Zwang, sich ständig selbst zu inszenieren: Seht her! Ich bin der Größte und Schönste – „jung, stark und unsterblich“. Wenn ich der Gnade und Güte Gottes Glauben schenke, dann werde ich immer mehr frei von dem Zwang mein eigener Lebensmeister zu sein. Und ich kann etwas ungemein Heilsames tun: Ich kann mich verlassen. „Verlassen“ in einem ersten Sinne: Ich verlasse mich selber in meiner notorischen Selbstanklage. Ich lasse den neurotischen Versuch mich selbst zu rechtfertigen, mir selber einzuleuchten.
„Verlassen“ auch in einem zweiten Sinn: Ich verlasse mich darauf, dass der Blick der Güte mich birgt. Ich vertraue darauf, dass ich angenommen bin – auch das Zerbrochene und Unansehnliche an mir und meinem Leben. Wer das einmal erfahren und wer das verinnerlicht hat, kann vielleicht anders mit seinem Spiegelbild umgehen. Er muss es nicht meiden oder ihm ganz davon laufen. Er kann sich seinem Anblick stellen und ihn aushalten. Das Mangelhafte und Abschreckende an diesem Anblick wird nicht einfach weg sein. Aber es belastet nicht mehr so sehr. Es macht mich nicht nieder und es wirft mich nicht aus der Bahn. – Da ist jemand, der liebt mich, noch bevor ich liebenswürdig bin. Darauf setze ich. Und darauf baue ich mein Leben Ich wünsch uns allen den Mut und das Vertrauen, uns selbst und auch anderen so zu begegnen. Ich wünsch uns den Blick der Liebe, mit dem Gott uns anschaut, jenen Blick, den wir an uns selbst zulassen und den wir anderen weiterschenken können.
Dietmar Jordan | Matthäus 22, 34–40