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SamariterInnen sollen den eigenen Lebensweg säumen

10. Juli 2022

Eine ungehaltene – ja, was: Predigt? Nein, ich mag nicht mehr predigen… Es gibt Evangelientexte, die gar keiner Auslegung bedürfen. Und es gibt Evangelientexte mit einer derartigen Wucht, und beim Lesen frage ich mich: Verharmlost am Ende eine Predigt den Anspruch Jesu? Und wäre so eine Auslegung nicht verharmlosend, traute ich mich, sie zu sonntags im Gottesdienst anzubieten oder einzubringen?

Jesus sagt den Frommen seiner Zeit, hier dem Gesetzeslehrer ins Gesicht, dass einer, der das Gesetz nicht kennt, der Samariter, es nicht nur eher erfüllt, sondern dass er es überhaupt erfüllt, im Gegensatz zum Priester und Leviten. Das ist ein vernichtendes Urteil über den Priester und Leviten und damit über eine Form von Frömmigkeit, die zwar die Realität sieht, aber das eigene Handeln davon nicht bestimmen lässt. Ich erlebe vielfach Kirche so, dass sie beginnt, Realitäten zu sehen, aber immer noch mehr bemüht ist, sich selbst aufzuführen, sich selbst zu zitieren, anstatt ihr Handeln von den gesehenen Realitäten ausgehen zu lassen. Das „Lehramt der Betroffenen“ brachte es als Formulierung auf den Punkt – aber wie weit sind wir davon entfernt?

Großen Bogen um Ungerechtigkeiten?

Im Originaltext steht das ganze noch viel drastischer, und ich frage mich, warum es in die neue Einheitsübersetzung nicht so hineingenommen wurde: Priester und Levit gehen sehend in großem Bogen vorüber – heißt es. Sie wollen erst gar nicht angesprochen werden von dem Verletzten, sie wollen sich nicht erden lassen und herabbeugen. Der Samariter, der hingeht zu dem Verletzten, steht dem – einen um den Verletzten einen großen Bogen machenden – Priester und Leviten gegenüber.

Ich lese darin eine Beschreibung, eine Frage, eine Herausforderung, der sich Christen, der sich Kirche zu allen Zeiten stellen muss: verbleibe ich in meinem gewohnten Trott, vermutlich in bester Absicht, absolviere mein Programm, meinen Dienst, meine Arbeit, das, was ich für „Gottesdienst“ halte, und tue es in einer Weise, die Verletzte, die Hilfsbedürftige links liegen oder erst gar nicht zu Wort kommen lässt? Ist vielleicht sogar das Programm selbst von der Art, dass es um viele Themen und Wirklichkeiten große Bögen machen lässt? In diesen Zeiten der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen wirkt dieses Gleichnis wie eine Realitätsbeschreibung angesichts all jener Verantwortlichen, die sich und die Institution schützen wollten und darum einen großen Bogen um die Opfer gemacht haben, sie nicht angehört oder ihnen nicht geglaubt haben, denen die „eigene Zunft“ wichtiger wahr (immer noch ist?).

Menschen, mit denen man Mitleid haben muss?

Der große Bogen wird nach wie vor von der Amtskirche etwa um Transmenschen gemacht, die es laut kirchlicher Definition in einem binären Menschenbild erst gar nicht gibt; er wird um alle „heiße Eisen“ Themen in den Kirchen gemacht, in denen Amtsträger schon im Vorfeld signalisieren, worüber man mit ihnen reden kann und worüber nicht, was sie gedenken, an sich heranzulassen und was nicht. Wem wirst du zum Nächsten – ist die Intention Jesu, also aktives Tun und nicht passives Abwarten, worauf sie zu reagieren bereit sind und worauf nicht. Dafür sorgen ausgesendete Signale, dafür sorgt der Auftritt, dafür sorgt die Art der Reaktion bei noch harmloseren Themen. Dieses Gleichnis beschreibt Ausübende vermeintlich frommer Berufe, die gern das Jenseits und einen Gott im Himmel im Sinn haben, die für die Leidenden dieser Welt in geschützten und sicheren Räumen beten aber einen großen Bogen um sie herum machen.

Ich mach es persönlich: seit ich mich an diese Geschichte von barmherzigen Samariter erinnern kann, bleibe ich bei dem überfallenen, ausgeplünderten, niedergeschlagenen Mann hängen und denke an die Leidensgeschichten queerer Menschen, meine eigene Geschichte, wo Gesetze und Lehren Leben geraubt und verwundet haben, wo die Stigmatisierung, nein Verurteilung queerer Menschen als „in sich nicht in Ordnung“ seiende Menschen, mit denen man Mitleid haben muss, für Formen von Niedergeschlagenheit gesorgt haben und sorgen, dass das gesamte Leben überschattet ist und immer wieder der Wunsch hochkommt: wäre doch schon alles vorbei.

Du änderst sie nicht…

Und richtig: Samariter sind nicht Priester und Levit und all die, für die sie stehen (fast wirkt es so, als meine Jesus: Du kannst es einfach von ihnen nicht erwarten, das ist nicht deine Schuld, du änderst sie nicht, lass sie laufen, halt dich mit ihnen nicht auf…); Samariter ist ein Fremder, jemand, der sich sorgt, der Wunden verbindet und nicht Wunden schlägt. Samariter sind Menschen, die jemanden an- und aufnehmen, wie er ist, die ihr Handeln davon bestimmen lassen. Jesus sagt mit diesem Gleichnis: es ist entscheidend wichtiger, dass eine Samaritern, ein Samariter den eigenen Lebensweg kreuzt als dass es ein Priester oder Levit tut.

Bernd Mönkebüscher

Hintergrund

Einst gehörten die Samaritaner, die in der Bibel als Samariter bekannt sind, zum Judentum, zu den Bewohnern des israelitischen Nordreiches. Von den Verschleppungen der Juden durch die Assyrer ins Babylonische Exil waren die Vorfahren der heutigen Samaritaner jedoch verschont geblieben. Sie blieben zurück und vermischten sich mit den babylonischen Siedlern. Den aus der Gefangenschaft heimkehrenden Juden galten sie daher als unrein.

Der Kontakt und Austausch mit den Fremden – für die Samaritaner ein Thema, das sie über die Jahrhunderte hinweg begleitete: Zwar nahmen sie, wohl auch des Überlebens willen, manche Verhaltensweisen der jeweiligen Herrscher dieser Region an und integrierten diese in ihre eigenen Traditionen – doch zugleich schafften sie es, sich über die Jahrhunderte hinweg ihren eigenen Glauben und ihre Kultur zu bewahren.

 

1 Rückmeldung

  1. 📚 King sagt:

    So ähnlich habe ich dies heute im Knast vor Straftätern erzählt. Ausgerechnet die Priester, die es eigentlich wissen müssten, machen einen großen Bogen um die Ungerechtigkeit. Die Frage ist nur, ob man das Unrechtssystem dahinter benennen und Maßnahmen zur Vermeidung des Verbrechens einleiten muss. Sprich, warum werden genau an dieser Stelle Menschen immer wieder ausgeraubt?

    Auf heute übertragen: Welche Systeme ermöglichen es, dass Menschen unter die Räder kommen? Allein die Not-Hilfe danach nutzt wenig, wenn die Fälle immer wieder auftauchen. Ich hoffe und wünsche mir, dass es SamariterInnen in den eigenen Reihen und außerhalb gibt, die die Problematiken dahinter aufdecken und sich einsetzen. Besonders und gerade im System „Kirche“.

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