Auf dem schwäbischen Tränenberg, dem Hohenasperg habe ich in sechzehn Jahren unzählige Gefangene weinen sehen. Tränen um ein verpfuschtes Leben. Tränen um die begangene „Missetat“. Tränen der versäumten Chancen. Bittere Tränen der Reue. Tränen lügen nicht. Manche Gefangene lassen sich in der Haft eine Träne unters Auge tätowieren, die sogenannte „Knastträne“. Sie steht meist für eine längere Zeit im „Bau“. Alle zehn Jahre darf eine neue hinzukommen. Knasttränen kann auch der „Tröster vom Dienst“ nicht trocknen.
Was willst du Menschen Tröstliches sagen, die schon lange im „Loch“ sitzen? Womit Gefangene trösten, die auch noch so krank sind, dass sie im Gefängniskrankenhaus liegen? Welchen Trost gibt es für jemanden, der keinerlei Perspektive hat? Vater Staat erwartet von „Tröster vom Dienst“, dass er beruhigend auf die Gefangenen einwirkt. Er soll Insassen, die durchdrehen zur Ruhe mahnen. Ich kam mir manchmal vor, wie einer, der Placebos verteilt. Hier ein gutes Wort, dort eine kleine Ermutigung, hier ein wenig Zuspruch, dort ein bisschen Beschwichtigen.
Böses mit Bösem vergelten?
Und ist auch der Gefängnisgottesdienst nicht ein Beruhigungsmittel? Da verkünde ich den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, während die „Schließer“ hinten in der letzten Reihe mit dem Schlüsselbund klappern. Da predige ich Menschen von einem gnädigen Gott, die bei ihrem Richter keine Gnade fanden. Ich rede von Vergebung und Versöhnung in einem Haus, in dem Böses mit Bösem vergolten, Strafe abgesessen wird. Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist das krasse Gegenteil von dem, was Gefangene nach ihrer Entlassung erfahren. Viele haben Angst heimzugehen und können nur davon träumen, mit offenen Armen empfangen zu werden. Manche dürfen gar nicht heim: Hausverbot.
Und auch der „Schlager“ Großer Gott wir loben dich klingt falsch. „Der uns von Kindesbeinen an unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.“ Wie viele Insassen wurden von ihrer Geburt an hin- und hergeschoben, verschoben, verstoßen!? Nicht wenige Gefangene sind Heimkinder. „Starker Helfer in der Not“ – „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ Ich habe Mühe, in das Loblied auf den „mächtigen König“ mit einzustimmen. Ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen. Aber bei so manchem Lied und Gebet bricht meine Stimme ein. „Guter Gott“, „Gott allen Trostes“? Wo ist er denn? Im Gebetbuch ja, auf dem Papier, aber im wahren Leben? „Wo bleibst du Trost der ganzen Welt?“, fragte der Jesuit Friedrich Spee in seinem Weihnachtslied vor 400 Jahren – und das ist ja auch heute immer noch die Frage hier in diesem Jammertal.
Nur bei ihr geblieben
Trost steht immer unter dem Generalverdacht der Vertröstung. „Am Ende wird alles gut.“- „Der Herr wird´s schon richten.“ Trost ist sprachlich verwandt mit Treue und Vertrauen. Gefangene trauen den Trostworten nicht. Sie nennen den Pfarrer „Himmelskomiker“. Ist auch komisch, in der Hölle mit dem Himmel zu kommen. Ein Betäubungsmittel, ein Opiat? Die Menschen hinter der Mauer hinterfragen meinen Glauben, führen mich in den existentiell-religiösen Abgrund, in die Nacht Gottes. Sein Schweigen aushalten. Ausharren an der Seite der Inhaftierten.
Als Seelsorger für Aidskranke habe ich oft Miri besucht. Das dreizehnjährige Mädchen war im Endstadium und blind. Bei jedem Besuch habe ich sie gefragt: „Miri, soll ich dir etwas vorlesen oder erzählen?“ Und jedes Mal hat sie ihre Hand ausgestreckt und mir mit ihrem zarten Stimmchen gesagt: „Hm, hm, nur ein bisschen da sein.“ An einem Sonntagnachmittag ging es Miri ganz schlecht. Sie haderte mit Gott und der Welt und schrie immer wieder: „Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr. Warum halten die Ärzte mich weiterhin in meinem kranken Körper gefangen?“ Ich saß hilflos an ihrem Bett und wusste nicht was sagen. Mit der Zeit wurde Miri ruhiger. Und als ich mich gegen Abend von ihr verabschiedete, umarmte mich Miri und sagte: „Petrus, du hast mir heute so viel geholfen.“ Das beschämte mich, denn ich hatte nichts getan, nichts Tröstliches gesagt. Ich war nur bei ihr geblieben.
Nur ein bisschen Dasein. Das habe ich gelernt, verstehen gelernt: ich kann für einen Menschen oft nicht mehr tun, als nur ein bisschen da zu sein. Dableiben, auch wenn ich am liebsten davonlaufen möchte. Gerade dann, wenn ich nichts machen kann, kann ich die Ohnmacht mit dem anderen teilen – und das ist das Größte, was ich für diesen Menschen tun kann. Trost geschieht dort, wo einer für den anderen einfach da ist und seine Wut, seine Verzweiflung aushält. Als Theologen meinen wir allzu oft, Menschen mit Worten trösten zu müssen. Trost spenden, als hätten wir einen Vorrat an Trostworten, die wir je nach Situation und Bedarf einsetzen können. Es gibt trostloses Leid. Da ist jedes Wort eines zu viel. Indem wir schweigen, zeigen wir Respekt vor dem Schmerz des anderen.
Wund-sein zur Sprache bringen
Dem Hilfsbedürftigen beistehen, ihn nicht allein lassen. Dasein für den Gefangenen, der mir unter vier Augen seine Wunde zeigt. Die Wunde des ungeliebten Kindes. Die Wunde der Kindesmisshandlung. Die Wunde, ein Verbrecher zu sein. Manche Wunde bricht immer wieder auf, will nicht vernarben. Trost ist wie eine lindernde Salbe auf eine Wunde. Salbungsvolle Worte lindern aber keinen Schmerz. Was dem Gefangenen guttut, ist ein Mensch, bei dem er sein Wund-sein zur Sprache bringen, sich aussprechen kann. Ein Mensch, bei dem er sich ungehemmt ausweinen kann. Ein einfühlsamer Mensch, der seine Wunde verbindet, verbindlich zu ihm steht. Die Treue halten, trösten, Tränen trocken, den Mörder umarmen. Das sagt ihm mehr als eine Predigt über Vergebung.
Da sein für diesen Menschen, der mich hier und jetzt braucht. Das ist ganz im Sinne Gottes, der über sich selbst zu Mose sagt: „Ich bin der Ich-bin-da.“ Der Dornbusch brennt, verbrennt aber nicht. Gott ist die brennende Liebe, die nicht vergeht. Ich bin da, wenn die Ohnmacht sich wie ein brennender Schmerz über euch legt. Ich bin da, wenn du dich ausgebrannt fühlst. Ich bin da, auch wenn ihr nichts davon merkt. Ich bin da, ich bin bei euch, wenn ihr dem geringsten Menschen Gutes tut. Ich bin da, darauf könnt ihr euch getrost verlassen.
Petrus Ceelen | Titelfoto: Barocke Krippenlandschaft Kloster Birnau, Bodensee
Die Kunst des Schweigens – Trost in Trauer und Leid