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Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

30. Juni 2022

Fernseher-Präsentation in einem Elektromarkt mit dem selben Programmbild.

Entgegen dem eigenen Selbstverständnis ist Deutschland ein Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft. Das zeigt sich auch in unserem Justizsystem. Ärmere Menschen werden hier systematisch diskriminiert und härter bestraft. Zu diesem Ergebnis kommt der Jurist Ronen Steinke in Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“. Er deckt systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem auf und stellt Forderungen, was sich ändern muss.

Der Autor studierte Rechtswissenschaften an der Bucerius Law School in Hamburg und wurde 2011 mit einer völkerstrafrechtlichen Studie über die politische Funktion von Kriegsverbrechertribunalen seit 1945 promoviert. Nach seiner Tätigkeit in verschiedenen Anwaltskanzleien und einem Jugendgefängnis, stellte die Süddeutsche Zeitung Steinke als Redakteur ein. 2013 veröffentlichte Steinke eine Biografie über den Jurist und Generalstaatsanwalt bei den Frankfurter Auschwitzprozessen Fritz Bauer. Sein Buch wurde zur Grundlage für den preisgekrönten Kinofilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015). Es folgten weitere Veröffentlichungen unter anderem ein Buch über antisemitische Gewalt.

Buchcover mit Klappentext des Buches von Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Erschienen im berlin Verlag 2021: 20,00 Euro

Gut recherchierte und belegte 270 Seiten

Der Jurist und Journalist hat ein Buch veröffentlicht, in dem er mit dem Justizsystem in Deutschland abrechnet. „Arme Leute erleben die ungefilterte Härte des Strafrechts, während reiche Leute gute Chancen haben, sich aus der Affäre zu ziehen und beides hat in den letzten 20 Jahren noch zugenommen“, so Steinke. Das 270 Seiten starke Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“, das beim Berlin Verlag erschien, hat acht Kapitel, die sich ausschließlich mit dem deutschen Strafrecht beschäftigen. Untermauert wird die Argumentation des Autors mit sechzig Seiten Fußnoten. Das Buch ist gewohnt gut recherchiert und auch für juristische Laien verständlich verfasst. Es belegt mit vielen Zahlen und Statistiken anschaulich, in welcher Schieflage sich die Strafjustiz in Deutschland befindet. Die vielen Beispiele aus der alltäglichen Praxis tragen zum besseren Verständnis bei. Ein Buch, das ungemütlich ist und schockiert. Aber in seiner klaren Benennung der Probleme wichtig ist, um unserer Justiz und allen, die in ihr beschäftigt sind, einen Spiegel vorzuhalten. Aber worum geht es in den einzelnen Kapiteln genau? Das haben wir uns für Euch angesehen:

Je teurer der Anwalt, desto unschuldiger der Angeklagte

Steinke beginnt seine Betrachtung mit der Rolle der Anwält:innen in unserem Justizsystem. Dabei stellt er eine einfache Rechnung auf: Nur reiche Menschen können sich einen wirklich engagierten und kompetenten Strafverteidiger leisten. Zwar sieht § 140 StPO in schweren Fällen sogenannte „Pflichtverteiger:innen“ vor. In 90 Prozent der strafrechtlichen Fälle haben Betroffene jedoch keinen Anspruch auf Pflichtverteidigung, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind. Das gilt beispielsweise für alle Fälle leichter Kriminalität vor dem Strafrichter (Amtsgericht). Wer dann kognitiv oder sprachlich nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, hat Pech gehabt.

Wer dennoch das Glück hat und eine:n Pflichtverteiger:in zur Seite gestellt bekommt, merkt recht schnell, dass diese auf Grund ihrer Unterbezahlung oft wenig engagiert sind. Das Problem: Die Tätigkeit als Pflichtverteidiger:in lohnt sich finanziell nur, wenn man dem Fall möglichst wenig Arbeitszeit widmen muss. Ansonsten ist die Abrechnung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) für den:die Strafverteidiger:in kaum noch kostendeckend. Hier muss eine Reform her, damit sich die gute Arbeit der Strafverteidiger:innen auch für sie lohnt. Ein weiterer Fehler im System: Das Strafrecht kennt die im Zivilrecht gegebene Möglichkeit der Prozesskostenhilfe nicht.

Je prekärer die Lebensumstände, desto strenger der Richter

Auch vielen Strafurteilen attestiert der Autor eine soziale Schieflage. So schauen Richter:innen bei der Strafzumessung auch auf die Lebensverhältnisse der Betroffenen. Was zunächst fair klingt, führt im Ergebnis oft dazu, dass diejenigen, die aus einem prekären Umfeld kommen, auch noch härter bestraft werden. Weil einem geschiedenen, arbeitslosen Drogensüchtigen keine „positive Sozialprognose“ gemacht werden kann. Im Umkehrschluss werden gebildete und wohlsituierte Menschen privilegiert. Und das, obwohl sie vielleicht genau die gleiche Tat begangen haben. Beispielsweise einen Ladendiebstahl. Hier kommt die Gymnasiastin aus reichem Elternhaus mit besten Zukunftschancen immer besser weg.

Geldstrafe, Gefängnis und U-Haft

Das eben genannte Problem setzt sich bei der Entscheidung über die konkrete Rechtsfolge fort. Je besser die Sozialprognose, desto eher bekommen Betroffene noch einmal mit einem blauen Auge in Form einer Bewährungsstrafe (§ 56 StGB) davon. Wer bereits zum Zeitpunkt des Urteils wohnungslos ist, muss eher ins Gefängnis. Das gilt auch bei der Untersuchungshaft. Denn in diesem Fall besteht angeblich oft „Fluchtgefahr“ (§ 112 I Nr. 1 StPO). Obwohl heute deutlich weniger Leute im Gefängnis sitzen als vor zwanzig Jahren, nimmt die Zahl der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen (§ 43 StGB) stetig zu. Eine Ersatzfreiheitsstrafe muss dann angetreten werden, wenn eine Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Und oh Wunder: Das betrifft nur Menschen, die sowieso schon am Existenzminimum leben. Die größte Ironie: Ein Tag Haft kostet den Staat pro Häftling rund 150 Euro. Und das auch, wenn die Betroffenen jeweils nur einen Tagessatz in Höhe von 10 Euro absitzen. Das Geld könnte deutlich besser investiert werden. Beispielsweise in der Drogenprävention oder für Obdachlose.

Und auch die 1975 eingeführte Berechnung der Geldstrafen nach Tagessätzen (§ 40 StGB) ist nur auf dem Papier „sozial“. Bei der Berechnung der Geldstrafe wird das Nettoeinkommen der Betroffenen zu Grunde gelegt. So wird das Einkommen von finanziell gut gestellten Personen meist zu niedrig geschätzt. Außerdem wird nicht berücksichtigt, wieviel Geld der:die Täter:in auf der Bank liegen hat. Wer richtig reich ist, und am besten noch in einem Eigenheim wohnt, bekommt die Geldstrafe kaum zu spüren. Für ärmere Menschen kann sie hingegen die eigene Existenz gefährden. Beispielsweise weil die Miete nicht mehr bezahl werden kann oder es an Rücklagen für die Reparatur von Haushaltsgegenständen oder dem Auto fehlt.

Wirtschaftskriminalität und Elendskriminalität

Zur Wirtschaftskriminalität werden zwar weniger als ein Prozent aller erfassten Delikte gerechnet, diese machen aber fast die Hälfte des durch Kriminalität verursachten Vermögensschadens aus. Trotzdem kommen Wirtschaftsstraftäter:innen vor Gericht oft richtig billig weg. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Staatsanwaltschaften und Gerichte auf Deals einlassen. Ebenfalls schockierend: Werden Manger:innen zu Geldstrafen verurteilt, darf sogar das Unternehmen die Strafe bezahlen. Das Unternehmen kann die Geldstrafe unter Umständen sogar als Betriebsausgabe (§ 4 V Nr. 8 EStG) steuermindernd geltend machen. Und: Es gibt Versicherungen, mit denen man sich für den Fall einer Verurteilung zu einer Geldstrafe absichern kann.

Umgekehrt wird in Deutschland gegen Elendskriminalität mit der vollen Härte des Gesetzes vorgegangen. Ein Beispiel: Bettelei ist seit 1973 nicht mehr strafbar, wenn aber die Bahn ein Hausverbot ausspricht, ist das Betteln im Bahnhof ein strafbarer Hausfriedensbruch iSd. § 123 StGB. Hier wird es jetzt leicht polemisch. Aber ein Beispiel des Autors schockt besonders: Fußballfunktionär Uli Hoeneß wurde wegen Steuerhinterziehung iHv. 28 Millionen zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Eine Hartz-IV-Empfängerin, die den Staat in Höhe von rund 84.000 Euro geschädigt hatte, erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Ist das noch gerecht?

Konsum durch alle Schichten, die Bestrafung nicht

Das gleiche Elend wie bei der Wirtschaftskriminalität/Elendskriminalität zeigt sich auch bei der Drogenkriminalität. Hier findet eine soziale Selektion statt. In Deutschland nehmen jährlich rund 6,6 Millionen Menschen illegale Drogen. Es wird aber insgesamt nur gegen 300.000 Personen strafrechtlich ermittelt. Und das sind genau die Personen, die sowieso schon am Rande der Gesellschaft stehen. Die Polizei kontrolliere eben eher die offene Drogenszene und weniger das Penthouse eines reichen (drogenkonsumierenden) Promis. Drogen werden zwar in allen Schichten konsumiert, so Steinke, unterschiedlich sei aber die Sichtbarkeit und die Bestrafung. Der Rechtsstaat bricht sein zentrales Versprechen: Das Versprechen lautet, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber sie sind nicht gleich. Das Recht hierzulande begünstigt jene, die begütert sind; es benachteiligt die, die wenig oder nichts haben. Verfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt schwarzfahren, enden hart und immer härter.

Jannina Schäffer | JURios.de

 

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