Der erste, der den Begriff Resozialisierung prägte, war Karl Liebknecht. So forderte er bereits 1912 in einer Debatte über Gefangenenarbeit: „Der Gedanke der Resozialisierung muss der kommandierende Gedanke sein für unsere ganze Strafvollstreckung.“ Mehr als hundert Jahre später untersucht die Historikerin Annelie Ramsbrock in ihrem lesenswerten Buch „Geschlossene Gesellschaft“, welche Rolle dieser Gedanke im BRD-Strafvollzug bis in die 1980er Jahre spielte. In den ersten Nachkriegsjahren war es damit nicht weit her. Es dominierten weiterhin faschistische und nicht von ungefähr kriminalbiologische Denkfiguren die Debatte über den Sinn des Strafvollzugs. Personelle Kontinuitäten zum Naziregime bestimmten Wissenschaft und Verwaltung.
Es nimmt somit nicht Wunder, dass das Strafrecht zunächst weiter primär an Sühne und Vergeltung ausgerichtet war. Das änderte sich in den 60er Jahren. In der Kriminologie setzte sich unter dem Einfluss der Soziologie immer mehr die Sozialisationstheorie durch, in der Folge wurde das Resozialisierungmodell entwickelt. Diesem lag die Vorstellung zugrunde, dass allen Gefangenen ein Mangel an Sozialisation gemeinsam sei und dieser durch eine Art „Ersatz-Sozialisation“ im Gefängnis behoben werden könne. Begleitet wurde dies durch den wirtschaftlichen Aufschwung, der einherging mit einem wohlfahrtsstaatlichen Staatsverständnis. Von daher wurden nun auch sozialintegrative Ansätze im Strafrecht durch die herrschende Politik aufgegriffen. Ramsbrock zeichnet zunächst die Diskussion um den Resozialisierungsansatz, seine Ableitung aus dem Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht sowie seine (halbherzige) Umsetzung im sozialliberalen Strafvollzugsgesetz von 1976 nach. In einem zweiten Schritt analysiert sie anhand der Gefängnisakten der Strafanstalt Berlin-Tegel, in Auswertung der Gefangenenzeitung Lichtblick und der Korrespondenz Gefangener mit dem Strafvollzugsarchiv die Implementierung des Resozialisierungsansatzes im Strafvollzug. Der dritte Teil der Arbeit ist eine kritische Bestandsaufnahme des Konzeptes.
Unversöhnlicher Gegensatz von Inhaftierten und Bediensteten
Im Ergebnis ist die Resozialisierung von Strafgefangenen keine Erfolgsgeschichte. Davon künden auch die hohen Rückfallquoten von über 50 Prozent. Zwar brachte das Strafvollzugsgesetz ein Mehr an Gefangenenrechten, an Ausbildungsmöglichkeiten, an Arbeit, Vollzugslockerungen (Ausgang, Urlaub, offener Vollzug, Freigang), an sinnvollen Freizeitmaßnahmen und damit eine Humanisierung der Haft. Die Ermessensspielräume der Verwaltung konterkarierten jedoch viele dieser Rechte und bedingten letztlich die Unverbindlichkeit des Gesetzes. Zwar wurde in die Ausbildung des Vollzugspersonals zu „sozialen Helfern“ investiert, aber der unversöhnliche Gegensatz von Inhaftierten und ihren Bewachern konnte nie richtig überwunden werden. Die als wirkliche Alternative zum Knast konzipierte sozialtherapeutische Anstalt, in der die Lebensbedingungen denen „draußen“ am weitesten angeglichen werden sollten, kam über das Stadium eines Modellversuchs nicht hinaus. Die Zwangsarbeit für einen Hungerlohn wurde beibehalten und die versprochene Eingliederung der Gefangenen in das Rentensystem auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Zudem verweist Ramsbrock auf eine unter dem Resozialisierungsgedanken vollzogene, aber menschenrechtswidrige Praxis: die Zulassung der chirurgischen Kastration zur Behandlung von Sexualstraftätern. Obwohl der Europarat 2010 und 2015 diese Praxis in Deutschland als „verstümmelnde“ und „erniedrigende“, die Menschenwürde verletzende Behandlung stigmatisierte, hält die Bundesregierung an dem „Kastrationsgesetz“ von 1969 fest.
Für Resozialisierung enge Grenzen
Das Strafvollzugsgesetz sei zur Reformruine verkommen, hieß es Mitte der 90er Jahre in der Wissenschaft. Gründe dafür sind zum Beispiel fehlende finanzielle Mittel, fehlender politischer Wille oder die Angst der Politik vor Rückschlägen und deren medialer Dramatisierung. Entscheidend aber ist, dass es nie gelang, die Eigenlogik der totalen Institution Knast aufzubrechen. Die Anpassung der Gefangenen an die Lebensform Strafanstalt, ihre Einbindung in eine zwangsläufig entstehende Subkultur, ihr strukturell bedingter Verlust an Autonomie, Selbstbestimmung und Rechtssicherheit, die weitgehende Kappung sozialer Kontakte und die Unterdrückung der Sexualität ziehen für eine Resozialisierung enge Grenzen. Die Freiheitsstrafe ist letztlich eine staatlich verordnete „Desozialisierung“, wie es der Kriminologe Johannes Feest auf den Begriff brachte. Damit bietet Ramsbrocks Buch aus historischer Sicht auch ein starkes Argument für Lösungen, die in der Abschaffung bzw. dem Abbau der Gefängnisse liegen.
Dafür sind jedoch die gesellschaftlichen Bedingungen nicht die günstigsten. Denn mit dem neoliberalen Strukturwandel der Gesellschaft ist zugleich eine neue Lust am Strafen zu verzeichnen. Staatstheoretisch hat sich ein Übergang vom sozialintegrativen Wohlfahrtsstaat zum präventiven Sicherheitsstaat vollzogen. Der Ruf nach dem „harten Strafrecht“ – anknüpfend an das in der Bevölkerung verbreitete Vergeltungsdenken und die mediale Empörungsökonomie nutzend – verspricht den Herrschenden politische Rendite. Aus diesem (falschen) Sicherheitsversprechen erklärt sich, so Ramsbrock, das Festhalten an der Kastration oder an der bereits durch ihre Nähe zur Nazigesetzgebung vergifteten Sicherungsverwahrung. Eine wirklich radikale Öffnung der geschlossenen Knastgesellschaft ist da schwierig. Aber wie heißt es doch bei Liebknechts Kampfgefährtin Rosa Luxemburg: Trotz alledem!
Volkmar Schöneburg | In: jungeWelt
Schöneburg ist promovierter Jurist. Er war von 2009 bis 2013 Justizminister des Landes Brandenburg und von 2014 bis 2019 Mitglied des brandenburgischen Landtags für “Die Linke”.
1 Rückmeldung
Der deutsche Strafvollzug muss endlich ins 21. Jahrhundert überführt werden!
Seit Jahrtausenden werden Menschen zur Strafe in Gefängnisse geschickt. Zwischen den mittelalterlichen Kerkern und den Justizvollzugsanstalten von heute bestehen nur geringfügige Unterschiede. Das System des Einsperrens hat sich also kaum verändert und ist schon gar nicht in der Moderne der Gegenwart angekommen. Viel eher besteht in Gesellschaft und Politik noch immer die Überzeugung, mit Gitterstäben eine Resozialisierung erreichen zu können. Doch diese Auffassung sei ein fataler Trugschluss, meint der Leiter der Beratungsstelle „Psychosoziale Sprechstunde“, Dennis Riehle in Konstanz, aktuell.
Das ehrenamtliche Unterstützungsangebot begleitet seit jeher Haftentlassene und bemängelt das Stehenbleiben in Fragen der Fortentwicklung eines zeitgemäßen Strafvollzugs: „In den allermeisten Fällen kommen Gefangene nicht geläutert aus der Haft zurück, sondern sind entweder traumatisiert oder krimineller denn je. Nur in Ausnahmen konnten Einsichtsfähigkeit, Reue und Bereitschaft zur Wiedereingliederung hergestellt werden. Kein Wunder, denn in den Anstalten herrscht ein Klima von Gewalt, Unterdrückung und Brutalität. Also genau das Gegenteil von dem, was dort eigentlich erreicht werden sollte“, sagt Dennis Riehle. „Durch den Freiheitsentzug wird eine völlige Isolation vom sozialen Dasein und mit wenigen Ausnahmen ein Bruch sämtlicher Kontakte nach außen vollzogen, der nicht nur zu einer psychischen Desorientierung und zunehmender Aggressivität führt. Es entsteht eine Parallelwelt, in der Gesetze – zumindest unter vielen Gefangenen – keine Gültigkeit mehr besitzen und daher rechtsfreie Räume entstehen, in denen sich der Stärke durchsetzt, um letztendlich zu überleben. Verwunderlich ist also nicht, dass in dieser Atmosphäre keine Rückkehr auf den rechten Weg möglich ist“.
Riehle kritisiert vor allem, dass im deutschen Justizwesen die Möglichkeiten alternatives Strafvollzugs bislang viel zu wenig angewandt werden, obwohl sie nicht nur kostensparender und effektiver sind, sondern auch die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten der Neuzeit garantieren können: „Hausarreste, die unkompliziert mit einer Fußfessel kontrolliert werden, sind dabei nur eine Option. Tatsächlich muss man sich ja die Frage stellen, was wir als Gemeinschaft tatsächlich erreichen, wenn wir Straftäter aus den Augen und aus dem Sinn schaffen und sie hinter hohen Gefängnismauern entmenschlichen. Schließlich ist solch eine Form der Rache am Straftäter nichts mehr als staatliche Selbstjustiz, die nicht zum Ergebnis führt, Buße und Versöhnung zu fördern und Verbrecher irgendwann wieder als ungefährlich ins Leben zu entlassen“, sagt Riehle.
Der Sozialberater erklärt darüber hinaus, dass der Strafvollzug von heute teuer, kreativlos und ungeeignet ist, um Prävention und Vorbeuge vor Rückfällen zu leisten. Stattdessen ist er eine hilflose Antwort auf Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen kriminell wurden und oftmals Unterstützung benötigen, um Unrecht zu erkennen und sich von Hass abzuwenden. „Im momentanen System sind psychotherapeutische Maßnahmen, Gesundheitsversorgung und Chancen der Teilhabe kaum umsetzbar und bleiben deshalb häufig ungenutzt. Damit ist eigentlich vorprogrammiert, dass auch nach der Haft wiederum eine erhöhte Gefahr für erneue Straffälligkeit besteht. Nur dann, wenn wir ernsthafte Perspektiven anbieten und bereit zum Vergeben sind, kann eine Reintegration funktionieren. Straffällige dürfen eben nicht den Anschluss verlieren, sondern sollten Angebote zum Täter-Opfer-Ausgleich, zu Wiedergutmachung und Umkehr bekommen, die aber in der Abschottung logischerweise versagt“.