Ein Glas Honig aus Rumänien überreicht der Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Igor Lindner, im Rahmen eines Grußwortes bei der Studientagung der Katholischen Schwesterkonferenz in Hildesheim. Bezugnehmend auf seinem Besuch in Siebenbürgen, sagt er ein herzliches Dankschön für die Themenwahl “Alternativen in und zur Haft”. Gefängnisseelsorge ist nach Lindner bereits eine Alternative im Vollzugssystem, wie er berichtet.
Als evangelischer Vertreter muss ich die Bibel zu Wort kommen lassen. Kommt das Wort „Hafterleichterung“ in der Bibel vor? Ich habe es entdeckt in der Apostelgeschichte des Lukas 24, 23. Es geht um die Verhaftung des Apostels Paulus und wie er in Haft genommen wird. Damals nur bis zur Urteilsverkündung, in diesem Sinne nicht als Straf-, sondern als Aufbewahrungsmodus, quasi Untersuchungshaft. Und ich gebe zu, eine “Hafterleichterung“ steht in der Genfer Bibelübersetzung nicht im Text, aber als Überschrift der Herausgeber. Dort handelt es sich um eine zusätzliche Besuchserlaubnis, die menschlichen und geistlichen Kontakt ermöglichte, und die mit Lebenmittelgaben verbunden war. Die Alternative zur Haft gab es für Paulus genaugenommen gar nicht, weil diese generelle Form der Bestrafung als Freiheitsentzug eine neuzeitliche Erfindung ist. Bei Paulus bedeutete Hafterleichterung zunächst etwas ziemlich Konkretes und zweitens das Bestehen auf seinem Recht als römischer Bürger dem Kaiser in Rom vorgeführt zu werden. Es geht bei dem Thema nach der Apostelgeschichte um die Erleichterung der Haftbedingungen und um das Wahrnehmen von bestehenden Rechten.
Schon vor 37 Jahren Alternativen bekannt
Ich muss zugeben, als ich das Thema zur Kenntnis nahm, fiel mir gleich ein: Gab es das nicht schon einmal ? Im Jahr 1990 die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu “Strafe als Tor zur Versöhnung”. Mein Vorgänger in der Jugendstrafanstalt Pforzheim, inzwischen eine Abschiebeeinrichtung des Innenministeriums Baden-Württembergs, Hansjörg Pfisterer, leider verstorben, hinterließ mir ein Buch. Im Jahr 1988, zuerst auf Niederländisch erschienen von Helmut Bianchi: “Alternativen zur Strafjustiz”. Im Untertitel das Stichwort “Täter-Opfer-Ausgleich”. Ich nahm es zur Hand und siehe da , die Thematik es ist gut erforscht, theologisch reflektiert bekannt und das schon vor 37 Jahren. Darin werden biblische Rechtsvorstellungen aufgezeigt sowie das römische Recht dargestellt. Ferner zwei grundlegende Rechtsmodelle (anomisch und eunomische), basierend auf der Thora. Das gegenwärtige Haftsystem wird dem anomischen System¹ zugeordnet. Inzwischen gibt es ermutigende Ansätze und Anstöße. Alles wr schon bekannt, alles schon erforscht und man ist geneigt zu sagen: “Nichts passiert”. Doch das stimmt nicht ganz.
Gegenteilige Entwicklungen
Die justizinternen Praktiker sind sich in vielem ziemlich einig. Die Stichworte von damals sind für das gegenwärtige System ähnlich: „disruptiv, vertikal, macht Menschen hilfsbedürftig, interrogativ, informativ, beruht auf Zwang, provokativ, droht immer wieder ein politischer „servo“ Mechanismus zu werden, frustriert menschliche Bedürfnisse, ist irrational, arbeitet mit einem Feindbild, kriminalisiert, ist dysfunktional, handelt nah dem Prinzip des Auferlegens, stigmatisiert…” Ich wette darauf, dass etliche dieser Attribute zur Sprache kommen.
Ermutigende Schritte
- Die Ersatzfreiheitsstrafen werden diskutiert und erleben eine faktische Halbierung. Unsere beiden Gefängnisseelsorgekonferenzen haben mitgewirkt. Das Grundproblem besteht aber weiter. Von Armut Betroffene werden im Gefängnis untergebracht, um nicht zu sagen hineingestopft.
- Die Opferorientierung ist inzwischen gesellschaftlich mehr im Blick.
- “Restaurive justice” ist ein Thema mit dem Täter-Opfer-Ausgleich.
- Es gibt inzwischen Alternativen: Schwitzen statt Sitzen, Haftvermeidungsprogramme z.B. in Baden-Württemberg, im Saarland. Freie Formen im Strafvollzug wie das Seehaus in Leipzig oder Leonberg.
- Eine angemessene Vergütung der Arbeit von Gefangenen scheint durch höchstrichterliches Urteil näher gerückt zu sein.
- Blick über die Landesgrenzen in die Schweiz: Dort gibt es eine Geldstrafe auf Bewährung. Beispiel Rumänien: Die Inhaftierung ab 65 Jahren muss sehr genau auf Zulässigkeit überprüft werden.
Andere Widerstände
- Klischee Serienkiller: Die wirkliche Welt des Gefängnisses ist draußen unbekannt. Stattdessen ersetzen Klischees aus TV und Streaming die fehlende Kenntnis. So Ist außerhalb der Mauern kaum jemandem bekannt, dass rund 10-15 % der Haftpopulation ihre Geldstrafen abbüßen.
- Die Zurschaustellung der Gnadenlosigkeit: Es gibt ein öffentliches Vergeltungsbedürfnis, ja Rachebedürfnis. Die dunkle Seite der Digitalisierung ist das Fernhalten von direktem Kontakt mit Menschen und damit verbunden die Schnellverurteilung.
- Täterorientierung wird dem Vollzug unterstellt. Damit ist gemeint, dass man sich zu sehr um die Täter und nicht um die Opfer kümmert. Doch stimmt das? Was stimmt ist: Vollzug ist teuer. Doch damit ist der Vollzug nicht schon gleich resozialisierungsorientiert! Wäre das so, dann müsste es die Wiedereingliederung oder überhaupt erste Eingliederung bereits im Vollzug geschehen.
- Berufsausbildung und intensive psychologische Arbeit und zwar nicht nur in der Abteilung einer Sozialtherapie.
Innere Sicherheit
Wenn es eine durchstrukturierte, strategisch geplante „Täter“- sprich Resozialisierungs-Orientierung gäbe, das Angebot einer neuen Ausrichtung von Lebensentwürfen, dann wäre das die Opferorientierung, die ein Gefängnis leisten kann. Der Täter, der nicht mehr straffällig wird, trägt enorm zur Wiederherstellung von Sicherheit bei. So gesehen ist eine Arbeit mit Tätern in Haft das Herstellen einer inneren Sicherheit, die allen zugutekommen würde. Als SeelsorgerInnen begegnen wir jedoch Menschen, die die inkarnierte Hilflosigkeit sind, die gegen alles sind oder die sich der Sucht ausliefern. Kurz: Sie haben sich aufgegeben. Wir sehen die Menschen, denen die letzten menschlich Kontakte entgleiten und die sich im System keinen Fehler erlauben dürfen. Darin werden wir einen gewissen Anteil trotz aller Maßnahmen nicht erreichen können. Vollzugsöffnende Maßnahmen sind zurückgefahren worden, vieles was mein damaliger Kollege Pfisterer durfte, ist inzwischen undenkbar: Mit jugendlichen Gefangenen auf den Weihnachtsmarkt gehen.
Modellprojekt “alternativ”
Es sind letztendlich politisch-gesellschaftliche Fragen, die aufgenommen und weitergeführt werden, so ist zu hoffen. Es sind Fragen die auch in unseren Kirchen bei aller Beschäftigung mit unseren eigenen, hausgemachten oder auch internen Problemen, im Blick bleiben mögen. Was ich mir weiterhin wünsche, ist, dass Täter und Opfer nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dass es Zeit wäre die beiden Kirchen würden etwas zusammen auf den Weg bringen. Und dass eine Modellanstalt mit dem Attribut“ alternativ“ errichtet werden wird, in einem gepflegten Wettbewerb. In den Gefängnissen machen GefängnisseelsorgerInnen – nehme mal diesen altmodischen Ausdruck – einen treuen Dienst. Sonntags Gottesdienste, montags an das Fach um die Ergebnisse des Wochend-Langeweile zu entnehmen, Gespräche führen, entscheiden, was ist wichtig, was kann warten, die Gruppen oder der Chor. Und immer wieder der Kontakt zu den Bediensteten. Seelsorge ist schon integriert in das System Vollzug. Und ich will nicht übertreiben, wir sind bereits jetzt schon ein wenig eine Alternative in Haft.
Igor Lindner | Studientagung der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. | Oktober 2023
¹ “Rechtsystem…, in dem die am Recht Teilhabenden keine oder nur unzureichende Gewissheit erfahren, dass die Rechtsregeln und die Rechtspraxis, mit der sie leben müssen, dazu dienen können, ihnen bei der Einrichtung ihres Lebens, bei der Erhaltung und /oder Verbesserung ihrer zwischenmenschlichen Kontakte zu helfen“ p.47
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Qualität und Kosten der Resozialisierung.
Seit 2006 ist die Zuständigkeit des Bundes für die Gesetzgebung für den Strafvollzug weggefallen, Qualität und Kosten der stationären und ambulanten Resozialisierung liegen seither in der Kompetenz der 16 Bundesländer. Bundesweit hat sich ein Flickenteppich von Qualität und Kosten insbesondere des Strafvollzugs und der Gerichtshilfe/Bewährungshilfe ergeben. Es fehlt z.B. eine Übersicht und Forschung über vergleichbare Personal- und Sachkosten und Rückfallquoten der Länder. Theorie und Praxis sind einem permanenten Wechsel ausgesetzt (MinisterInnen kommen und gehen), die Politik in den Landtagen und die Verwaltung in den Justiz-, Sozial- und Innenministerien brauchen dringend belastbare Grundlagen und Kriterien zur Planung und Entscheidungsfindung.
Die kriminologische Forschung und die Steuerungs- und Gestaltungsebenen in den Bundesländern sind deshalb aufgerufen, sich den Fragen von Qualität und Kosten der Resozialisierung verstärkt anzunehmen, um so für die Öffentlichkeit und die Medien Orientierung zu leisten. Geschieht dieses weiterhin nicht wächst die Gefahr von populistischen Übertreibungen und Fehlentwicklungen.