Während meiner Zeit als Fachperson im Entwicklungsdienst im südamerikanischen Bolivien lerne ich einen kleinen winzigen Vogel neu kennen: Der Picaflor. In der subtropischen Millionenstadt Santa Cruz de la Sierra sucht er besonders an der Peripherie des Stadtrandes Nahrung. Genau hier waren wir als Team im Armenviertel des “kilometro catorce” eingesetzt. 14 Kilometer von der Stadtmitte dieser Metropole weg.
Eine vierspurige Ausfahrtstraße führt in dieses Gebiet. Eine “Tranca”, eine Art Mautstation muss man durchfahren, um dorthin zu gelangen. Die Straße ist privatisiert gebaut und so muss man immer wieder an solchen Stationen Maut begleichen. Die Stadt ist in Ringen eingeteilt. Am äußeren Ring siedeln sich vor allem die Menschen aus dem Andengebiet an, um in der Stadt ein besseres Einkommen zu erzielen. Sie kommen vom Altiplano, einer Hochebene in Westbolivien, auf etwa 3.500 m – 4.000 m Höhe mit dem Regierungssitz La Paz. Die subtropische Ebene Llanos in Südostbolivien sind eine weite Ebene, die von Trocken- und Feuchtwäldern geprägt wird und zum großen Teil landwirtschaftlich genutzt wird. Das industrielle und kulturelle Zentrum ist die Stadt Santa Cruz de la Sierra.
Santa Cruz de la Sierra wächst ständig neu. immer mehr Ringen werden um die Stadt gezogen. Oftmals ohne asphaltierten Straßen und entsprechender Infrastruktur. Die Stadt ist das “Boomtown” Boliviens, ein Schmelztiegel aus verschiedenen indigenen Völkern, amerikanisch und spanisch geprägten Familien sowie Einwanderer aus Europa. Inmitten des Stadtrandviertels im sogenannten “Armenviertel”, wo Hütten und provisorische Kirchen stehen, kann man dem Kolibri begegnen.
Die Flügel der Kolibris schlagen 60 mal pro Sekunde. Im Vogelreich gelten die Kolibris als geschickte Flieger. Mit ihrer Technik ist es ihnen möglich, in jede beliebige Richtung zu fliegen oder wie ein Helikopter auf der Stelle zu kreisen. Sie sind mit der Fähigkeit zum Rückwärtsflug ausgestattet. Im Englischen wird der Kolibri wegen seiner Geräusche als “Hummingbird” bezeichnet. “Humming” bedeutet soviel wie “summen”. Im Spanischen wird er “Picaflor” genannt, weil er an den Blüten “pickt”. Im Lateinischen ist ihr Name Trochilidae. Der Name “picaflor” inspirierte in Europa Firmen, deren Bezeichnung für ihre Arbeit und Angebote zu nutzen.
Der kleine Vogel kann uns spiritueller Begleiter sein. Gehen wir mit Leidenschaft, Kreativität, Beharrlichkeit und Liebe an unsere Aufgaben heran? Der Picaflor ist ein Symbol der Freude und Ausdauer. Seine Farben schillern in der Sonne. Es ist faszinierend ihn zu beobachten. Wenn man ihn denn ihn zu Gesicht bekommt. Der Vogel ist so schnell wieder weg, wie er gekommen ist. Ein Highlight ist es besonders dann, ihn zu entdecken. Der Picaflor weiß genau, an welcher Blüte was zu holen ist. Er trifft es auf den Punkt. Ob wir im Leben genauso zielgenau vorgehen? Wo ist unsere Mitte, aus der wir Kraft tanken können? Sind wir manches Mal zu unbeweglich? Solche Fragen stelle ich mir, wenn ich den Picaflor beobachte.
Besonders deutlich wird dies in der Zeit des Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie. Gezwungenermaßen müssen wir uns auf das Notwendigste konzentrieren. So einige gewohnte Ablenkungsmanöver greifen nicht mehr. Es zeigt sich schmerzhaft, was nicht (mehr) tragfähig ist. Gibt es neue Möglichkeiten der Besinnung auf eine Mitte und einer Kraftquelle? Oder ist in mir nur eine Leere? Die Leere kann motivieren, sich auf den Weg zu machen, beweglich zu bleiben, neue Wege zu gehen. Der Picaflor macht es uns vor: Auch mal nach rechts und links fliegen und rückwärts! Kann ich erkennen, wenn ich mich verrannt habe? Eine Beziehung aufzugeben, weil sie eh schon kaputt ist? Bin ich zu abhängig von außen, von Menschen, die ich “brauche”? Kann ich mich mit meinen Lebensbrüchen versöhnen? Die “Brüche” können zu einer Stärke werden.
Aus der dreieinhalbjährigen Zeit im südamerikanischen Bolivien habe ich mir einen Holzpicaflor mitgenommen. Er erinnert mich an meinen Schreibtisch nicht nur an diese Zeit, sondern er inspiriert mich täglich neu. Besonders in Zeiten der Unsicherheit und Traurigkeit. Es ist ein Hoffnungsvogel für mich geworden.
Michael King | Zeichnung: Anne Stickel, Kolumbien
Farbenrausch und Lockdown.
Eine farben-berauschende Zeichnung
aus dem südamerikanischen Kolumbien.
Mitten hinein in den
dunklen Lockdown, der für Deutschland neu
verordnet wird.
Kolibri – Picaflor (= der an Blüten pickt),
wie er in Lateinamerika genannt wird.
Der Picaflor, der sich stärkt und kräftigt,
an satten Blütenfarben,
aus winzigen Blütenkelchen vermag er mit Feingefühl
und akrobatischem Stillstand-Flügelschlag
seine Nahrung zu nehmen.
Federn und Gestalt
bestechend schillernd
zierlich und zart und doch so ausdrucksstark,
faszinierte er uns.
Als er im Garten unseres Wohnhauses in Bolivien
auftaucht und sich täglich in der Abenddämmerung
an den kleinen roten Trompetenblüten-Kelchen labte.
Der aktuelle Lockdown scheint etwas von der
Fülle des weihnachtlichen Weges zu nehmen.
Aber diese leuchtend schöne Darstellung
des Picaflor – Kolibri
mit Panflöten-Tönen, Ziehharmonika-Klängen
und hinhaltendem Kerzen-LICHT.
Durch schwarze Dunkelheit fliegend.
Der GEBURT des einmaligen KINDES entgegen.
Schenkt Nahrung für die Seele.
Aus Kolumbien, wo die Erschafferin des
Kunstwerkes, Anne, sich in einem kleinen Haus
und im Dauer-Lockdown befindet.
Es schwappt Freude-Farbe über die Ozeane
hinein ins deutsches Wohnzimmer.
In dem vor ein paar Stunden die dunklen Nachrichten
des erneuten Lockdowns Einzug gehalten haben.
Danke, für die Stärkung.
Angelika Hartmann