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Permanenter Lockdown – Insel der Normalität

30. Juni 2020

Das Kirchengebäude der Jugendanstalt Raßnitz in Sachsen-Anhalt steht wie auf einer Insel inmitten des Anstaltsgeländes und der Hafthäuser ringsherum. Nur durch eine Brücke ist sie über einen Teich zu erreichen.

„Jetzt geht’s den Menschen draußen auch mal so wie uns Gefangenen. Wir haben es sogar noch besser. Bei uns im Knastladen gibt’s noch Nudeln. Und Toilettenpapier haben wir auch!“ Dies war die spontane Reaktion eines Gefangenen in der Jugendanstalt (JA) Raßnitz auf die Beschränkungen im Rahmen der Covid-19 Prävention. Anfang März verfolgten die Gefangenen in Sachsen-Anhalt gebannt am Fernseher die Nachrichten und Berichterstattungen, wie sich die Zahl der Infektionen besorgniserregend erhöhte, welche Maßnahmen ergriffen wurden und wie sich die Welt draußen rasant veränderte – während ihre Welt (das Gefängnis) zunächst so blieb, wie sie war.

Paradoxerweise deswegen, weil ein Gefängnis eben kein Ort der Normalität ist. Das Gefängnis ist ein randständiger Ort der existenziellen Krisen, des Leids, der Gewalt, der Ohnmacht, der absoluten Ent- und Begrenzung aber unter Umständen auch ein Ort der Hoffnung und der Freude. Kurzum ein Ort der Extreme. Das wird mir jeden Tag bewusst, wenn ich diesen Ort durch die Schleuse betrete, um dieses Leben hinter den Mauern mit den Gefangenen temporär zu teilen. Auch für mich wurde das Gefängnis in den vergangenen Wochen ein Ort der Kontinuität. Vor den Mauern unterlag ich den sozialen Kontaktbeschränkungen, hinter den Mauern stieg der Bedarf an Seelsorgegesprächen.

Gefängnis paradoxerweise eine Insel der Normalität

Während sich die Angst vor der Ansteckungen mit Covid-19 exponentiell mit der Anzahl der bestätigten Infektionen ausbreitete, fast täglich neue Beschränkungen und Anweisungen für das öffentliche Leben herausgegeben wurden, die Fernsehbilder aus den Krankenhäusern in Italien für Entsetzen sorgten und die gähnende Leere in den Straßen, Bussen und Bahnen sowie in den Einkaufregalen unwirklich erschien, ging das Leben im Gefängnis seinen gewohnten Gang.

Doch auch hinter den Mauern änderte sich langsam etwas. Das vermeintlich Gewohnte wurde auf den Kopf gestellt. Plötzlich waren wir, die wir von draußen kamen, eine konkrete Gefahr für die, die im Gefängnis leben. Alle „nicht-notwendigen“ externen MitarbeiterInnen durften die Anstalt nicht mehr betreten. Das umfasste alle Lehrer*innen, AusbilderInnen, Projekt-MitarbeiterInnen und ehrenamtlich Engagierte. Somit blieben die Schule und die Ausbildungsbetriebe geschlossen und so gut wie alle Freizeitaktivitäten im Haftalltag wurden eingestellt.

Doch für die meisten Gefangenen war das größte Problem, dass ebenso keine Besuche mehr zugelassen wurden. RechtsanwälteInnen, GutachterInnen und MitarbeiterInnen des sozialen Dienstes der Justiz konnten vorerst nicht in die Anstalt. Das bedeutete konkret, dass gerichtliche Verfahren (Verurteilung, vorzeitige Entlassung, etc.) auf unbestimmte  Zeit verschoben wurden. Schlimmer war jedoch, dass die Inhaftierten weder ihre Familien, noch ihre PartnerInnen sehen konnten. Diese Gemengelage von Langeweile und Frust enthält erfahrungsgemäß großes Potenzial für Konflikte. Auch hier waren Fernsehbilder aus Italien eine beängstigende Vorwarnung. Anfang März gab es in 27 italienischen Gefängnissen Aufstände und Unruhen – sechs Gefangene starben. Ausgelöst wurden diese Unruhen durch die Kontaktbeschränkungen (Besuchsverbote) als Maßnahme gegen die Covid-19 Epidemie.

Das Haus des offenen Vollzuges der JA Raßnitz. Foto: Justiz Sachsen-Anhalt

Seelsorger sollten in den Anstalten bleiben

So, wie auf den höheren Ebenen der Justiz der Pandemieplan eilig der aktuellen Situation angepasst wurde, so wurde in den Anstalten ganz praktisch und kreativ daran gearbeitet, wie man mit dieser Situation umgehen konnte. Die Sportangebote wurden ausgeweitet, um den Gefangenen eine körperliche Freizeitaktivität zu ermöglichen. In den Hafthäusern wurde gebastelt, gebacken und gegrillt. Als Seelsorger konnte ich mit meinen Ressourcen einige Angebote – zusammen mit den Justizvollzugsbediensteten – anschieben und unterstützen. Die Gottesdienste (die aufgrund von Sicherheitsbestimmungen sowieso auf eine kleine Teilnehmerzahl begrenzt ist) wurden ausgeweitet, Seelsorgegespräche enger getaktet sowie gezielt Gruppengespräche angeboten, um möglichst vielen Gefangenen mit ihren Sorgen und Nöten gerecht werden zu können.

In Kooperation mit dem Verein Miteinander e.V. hat die Gefängnisseelsorge Kreativboxen (Kartons mit Mal- und Schreibutensilien, Arbeitsaufträgen und Anleitungen von Künstlern aus Leipzig) unter den Inhaftierten verteilt, damit die Gefangenen sich in ihren Zellen sinnvoll und kreativ beschäftigen konnten. Doch nicht alles lief erfolgreich. Als Seelsorger plante ich ein Kirchenkino, in welchem ausgewählte Filme gezeigt werden sollten, um danach darüber ins Gespräch zu kommen. Trotz aller Sicherheitsbestimmungen und institutioneller Verfahrensweisen gelang es mir (in Kooperation mit Miteinander e.V.) zügig das technische Equipment zu organisieren. Sogar die Filme – mit Lizenz zur öffentlichen nicht-gewerblichen Vorführung – waren über das Medienportal der christlichen Kirchen kein Problem. Doch leider gab es in der gesamten Anstalt keinen geeigneten dunklen Raum, der gemäß der Hygienevorschriften groß genug (für 10 Inhaftierte mit dem Seelsorger) gewesen wäre, um das Kino durchführen zu können. Wir haben das Kirchenkino auf die dunklen Tage im Herbst/Winter verschoben, somit hält sich die Ernüchterung in Grenzen.

Mit großem Erstaunen habe ich festgestellt, mit welchem Verständnis und mit welcher Solidarität die Gefangenen diese schmerzhaften Einschränkungen hingenommen haben. Gerade dann, wenn einem durch die Inhaftierung schon viele Rechte genommen wurden, ist diese Reaktion nicht unbedingt erwartbar. Von dieser Einsicht in die Notwendigkeit und Solidarität können wir so manches lernen. Denn wie der Gefangene sagte: „Jetzt geht’s denen draußen auch mal so wie uns…“  oder biblisch gesprochen: „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen“ (Heb 13,3).

Markus Herold | JA Rassnitz
MOMENT. Pastoral-Magazin Bistum Magdeburg

 

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