Härtere Auflagen für Häftlinge wegen der Coronavirus-Pandemie haben in Brasilien zu einem Gefangenen-Aufstand geführt: Im Bundesstaat Sao Paulo sind hunderte Gefangene aus verschiedenen Gefängnissen geflohen, nachdem die Behörden das Recht auf Freigang für Häftlinge im halboffenen Vollzug ausgesetzt hatten. Die Regierung des Bundesstaats Sao Paulo hatte den geplanten Freigang mit dem Argument verschoben, dass die “mehr als 34.000” betroffenen Gefangenen bei ihrer Rückkehr in die Gefängnisse das Coronavirus einschleppen und andere Inhaftierte anstecken könnten. Gefangene im halboffenen Vollzug dürfen normalerweise tagsüber das Gefängnis verlassen, etwa um zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Andere Bundeslánder (Rio Grande do Norte, Goiás, Minas Gerais, Bahia) haben die Leute nach Hause geschickt oder den lokalen Richtern den Haussarrest empfohlen. Die NGO Organisaton “IDDD” hat eine Petition im obersten Gerichtshof eingereicht mit der Bitte wenigstens schutzbedürftige Häftlinge freizulassen – schwangere Frauen, Kranke oder ältere Menschen.
Die brasilianische Gefängnispastoral schreibt angesichts der Covid-19 Pandemie einem offenen Brief an das Gesundheits- und Justizministerium, um zur Verbreitung des Virus in den Gefängnissen Stellung zu nehmen. Das Gesundheitsministerium veröffentlichte, dass es bis 12. März 78 bestätigte Fälle und 930 Verdachtsfälle des Coronavirus in den Gefängnissen gab.
Es handelt sich um eine Krankheit, die durch Kontakt des Virus mit den Atemwegen des Wirts erworben wird und unter anderem Fieber, Atembeschwerden, Husten und in einigen Fällen den Tod verursacht. Am 8. März 2020 gab die Weltgesundheitsorganisation bekannt, dass weltweit Todesfälle gemeldet wurden, und am 11. März stufte sie die Ansteckung mit dem Virus als Pandemie ein. Wenn sich das Virus auf brasilianische Gefängnisse ausbreitet, werden die Folgen katastrophal sein. Achtzig Prozent der Coronavirus-Fälle haben leichte Symptome, wie z.B. eine Grippe; allerdings haben die Inhaftierten und Häftlinge aufgrund der menschenunwürdigen Bedingungen im Gefängnis eine sehr geringe Immunität.
Ein Beweis dafür ist, dass Tuberkulose in Gefängnissen 30 Mal häufiger vorkommt als in der Gesellschaft im Allgemeinen. Andere Gesundheitsprobleme betreffen die Häftlinge zu jeder Zeit: Im Januar dieses Jahres wurde beispielsweise bei etwa 240 Häftlingen in der landwirtschaftlichen Strafanstalt Monte Cristo (Pamc) in Roraima eine durch Bakterien verursachte Hautkrankheit diagnostiziert. Darüber hinaus werden nach den neuesten Daten des Justizministeriums 62% der Todesfälle von Gefangenen und Häftlingen durch Krankheiten wie HIV, Syphilis und Tuberkulose verursacht.
Trotz dieses Szenarios gibt es bis keine Spur von präventiven klinisch-epidemiologischen Maßnahmen für die Verwahrung von Gefangenen und Häftlingen seitens der zuständigen Behörden in ganz Brasilien. Die Maßnahmen, die in den letzten Tagen durchgeführt wurden, wie die Aussetzung der Besuche, die verstärkte Reinigung der Zellen mit der Lieferung von Reinigungsmitteln an die Inhaftierten, die Verteilung von Informationsbroschüren für Gefängnisangestellte und die medizinische Untersuchung der Gefangenen, sind nach unserer Einschätzung Maßnahmen von geringer Wirksamkeit, die eher dazu dienen, auf die soziale Panik zu reagieren, als sicherzustellen, dass die Häftlinge nicht tatsächlich kontaminiert werden.
Saubere Zellen nützen nichts, wenn sie immer noch überfüllt sind, wenn die Inhaftierten keine Hygienematerialien haben, die Wasserrationierung erfolgt sowie prekäre Lebensmittel und physische und psychische Folter Realität sind. Dies sind konstante Bedingungen in den Gefangeneneinheiten im ganzen Land. Der wirksame Kampf gegen die Ansteckung mit dem Virus – und allen anderen Krankheiten, die die Häftlinge betreffen – ist der Kampf gegen die Folterstrukturen des Gefängnisses. Im Iran zum Beispiel wurden, seit die Überbelegung und die Gruppierung von Menschen der Hauptauslöser für die Kontamination ist, mehr als 120.000 Gefangene als Präventivmaßnahme freigelassen. Ausgehend von dieser Situation und als Folge eines kollektiven Diskurses, der von der Gefängnispastoral im Rahmen des Ausbildungstreffens für Pastoralagenten in Curitiba aufgebaut wurde, fordern wir:
- Dass konkrete Maßnahmen ergriffen werden, wie die Freilassung von Gefangenen, um eine Epidemie von CONVID-19 in brasilianischen Gefängnissen zu vermeiden, die sich auf den Rest der Gesellschaft ausbreiten würde.
- Dass die Garantien des Strafvollzugsgesetzes (LEP) erfüllt werden, das den Gefangenen ein Minimum an Würde garantiert und den in diesem Brief erwähnten Folterbedingungen, die so viel Leid und Krankheit verursachen, ein Ende setzt.
- Dass präventive, klinische und epidemiologische Maßnahmen in brasilianischen Gefängnissen ergriffen werden, um zu verhindern, dass Menschen mit dem Coronavirus und so vielen anderen Krankheiten kontaminiert werden.
Sr. Petra Silvia Pfaller mc
Koordinatorin Nationale Gefängnispastoral Brasilien – CNBB
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“Die Nachrichten in Brasilien sind leider gar nicht gut – es wird jeden Tag schlimmer, statt besser. Immer mehr Gefangene sind infiziert, viele davon überleben es nicht”, schreibt Sr. Petra Pfaller per Email. Aus dem Bistum Regensburg stammend setzt sie sich seit 25 Jahren für die Gefängnisseelsorge in Brasilien ein. Doch was sie in diesen Wochen miterleben muss, ist auch für sie trotz langjähriger Erfahrung, eine große Herausforderung.
Besonders Favelas und unterversorgte Gemeinden sind betroffen von den fehlenden Maßnahmen der von Bolsonaro geführten Regierung. Die Corona-Pandemie verschärft v.a. auch die ohnehin kritischen, menschenunwürdigen und oftmals verschwiegenen Bedingungen in den Gefängnissen Brasiliens. “Familienangehörige können den Häftlingen keine grundlegenden Hygieneartikel oder Lebensmittel mitbringen. Vorübergehende Haftentlassungen für kranke Gefangene, schwangere Frauen und stillende Mütter werden verweigert, was auf Grund der Zustände in den brasilianischen Gefängnissen und der COVID-19-Pandemie häufig einem Todesurteil gleichkommt” heißt es in einem aktuellen Kurzbericht über ihre Arbeit.
“Aber wir lassen uns nicht unterkriegen…. die Hoffnung stirbt zuletzt” beendet Sr. Petra Pfaller ihre Mail.
Die Situation in den brasilianischen Gefängnissen wird angesichts von Corona immer schwieriger und gefährlicher. Ein grosses Massaker wird befürchtet, das vom Staat provoziert wird. Gefangene werden vom halboffenen Vollzug zum Hausarrest geschickt, wenn der örtliche Richter dies für wichtig ansieht. Dafür sind es aber zu wenige, wenn man an die fast eine Million Häftlinge in Brasilien denkt.
Die Familien und die GefägnnisseseelsorgerInnen dürfen die Gefängnisse nicht besuchen. Wir sind sozusagen im “Hausarrest”. Es hat auch was für sich, weil nun viele liegen gebliebene Dinge auf meinem Schreibtisch nun bearbeitet werden. Im Gefängnis gibt es bereits die ersten Sterbefälle und viele Infizierten, die Behörden versuchen dies zu vertuschen. Offiziell sind derzeit mehr als 6.400 Menschen gestorben, doch sind sicher viel mehr, den die Dunkelziffern sind sehr groß. Gerade in diesen Krisentagen brauchen wir gute Hirten, “Hirten” die Entscheidungen für das LEBEN vieler haben und somit Verantwortung tragen.