Die dreitägige Fachwoche der Straffälligenhilfe in Köln beschäftigt sich mit dem Thema „Haltestelle Desistance”, wie ein Ausstieg aus der Kriminalität gelingen kann. Veranstaltet wird sie von der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (KAGS) und dem Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET). Vorträge und Diskussionen mit ReferentInnen aus Deutschland, der Westschweiz und den Niederlanden, eine Lesung mit dem Autor Klaus Jünschke sowie Workshops und ein Gallerywalk, die das Thema „Desistance“ unterschiedlich beleuchten.
Der Gallerywalk (auch Galerierundgang oder Museumsgang) ist eine kooperative Methode, die sich zur Präsentation und dem Austausch von Arbeitsergebnissen eignet. Neben den Rede-Vorträgen ein guter Ansatz, den Begriff der “Desistance” zu füllen. Dieser beschreibt den nachhaltigen Ausstieg aus kriminellen Aktivitäten und den Weg in ein straffreies Leben. Dabei geht es nicht nur um den Moment des Ausstiegs, sondern um den gesamten Prozess, der diese Veränderung begleitet und unterstützt. In der Wissenschaft ist der Begriff bekannt, in der Praxis ist er innovativ, aber in der Gesellschaft weitgehend unbekannt.
Bedingungen zur Distanz
Im Gegensatz zur traditionellen Kriminologie fragt der Desistance-Ansatz nicht nach den Ursachen von Kriminalität, sondern nach den Bedingungen, unter denen es gelingt, sich von einer kriminellen Karriere zu distanzieren. Er untersucht die Wendepunkte und Entwicklungen, die einen solchen Wandel ermöglichen, anstatt die Unterschiede zwischen StraftäterInnen und weniger auffälligen Personen zu analysieren. Dieser Prozess, der oft durch Umwege gekennzeichnet ist, umfasst sowohl den konkreten Ausstieg aus der Kriminalität als auch die Veränderung des Selbstverständnisses und die Integration in die Gesellschaft. Die Erkenntnisse der Desistance-Forschung haben weitreichende Konsequenzen für die praktische Arbeit in der Straffälligenhilfe. Sie betonen die Bedeutung des unmittelbaren Umfeldes und der sozialen Unterstützung nach der Haftentlassung und zeigen, dass jeder Mensch, unabhängig von der Schwere und Häufigkeit seiner Straftaten, die Möglichkeit hat, auszusteigen.
Haltepunkte und Neuorientierung
In der Einladung ist ein Bushalteschild mit dem Wort “Desistance” zu sehen. Austeigen heißt, sich zu vergewissern, wo man steht sowie an einem der Haltepunkte neu in eine andere Richtung weiterzufahren. Wie kann die Gesellschaft die schädlichen Auswirkungen einer Inhaftierung minimieren? Was kann die Menschen straffrei halten? Wie wirken sich die gesellschaftlichen Veränderungen aus und aus welchem Menschenbild ist Desistance geprägt? Mit solchen und weiteren Fragen beschäftigen sich die rund 100 TeilnehmerInnen im Maternus-Haus in Köln. Sie fragen aus sozialwissenschaftlicher, politischer, ethisch-theologischer und sozialarbeiterischer Perspektive. Der Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Benjamin Limbach (Grüne) und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Rieker (parteilos) geben Grußworte zu dieser Fachwoche. Beide betonten die Wichtigkeit und Notwendigkeit der freien und kirchlich getragenen Straffälligenhilfe. Demgegenüber steht, dass das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Köln die Mittel für die Straffälligenhilfe sowie den Täter-Opfer-Ausgleich drastisch gekürzt haben. KollegInnen stehen mit ihrer Arbeit in der Straffälligenhilfe teilweise vor dem aus. Ein bitterer Beigeschmack der wohlwollend formulierten Grußworte.
Nicht offen für Menschen, die umkehren wollen
“Interessant ist, dass es inhaltliche Überschneidungen, Ergänzungen und Querverweise in den Vorträgen gibt. Wenn Desistance für Menschen gelingen soll, braucht es neben einem persönlichen Ziel eine offene und integrierende Gesellschaft. Sind wir als Gesellschaft offen für Menschen, die eine Umkehr und einen Neustart beginnen wollen?”, fragt der Beauftragte für die Katholische Straffälligenhilfe (KAGS), Peter Holzer von der JVA Bruchsal, seitens der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. Das Zitat von Robert Cummines, einem ehemaliger englischer Bandenführer, Schutzgelderpresser, bewaffneter Räuber und krimineller Vollstrecker rüttelt auf: “Warum Mitglied einer Gesellschaft werden, die mich ständig diskriminiert, bei der Arbeit, beim Wohnen? Warum soll ich Eurer Gang beitreten?”, wird Cummines mit diesen Worten in einer Präsentation genannt. Prof. Dr. Michael Rosenberger, Professor für Moraltheologie an der Katholischen Privatuniversität in Linz, berichtet von seinen Forschungsschwerpunkten u.a. in der Schöpfungsethik und der Willensfreiheit. Prof. Dr. Christian Ghanem, Professor für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit von der Technischen Universität Nürnberg, spricht sich für eine akzeptierende Drogenarbeit aus.
Plädoyer gegen Armut
Ein Projekt das herausragt ist Objectif Désistance aus der Westschweiz. Es bietet ein Betreuungskonzept, das Personen beim Ausstieg aus der Kriminalität unterstützen soll. Dieser Prozess beschreibt den individuell-subjektiven Werdegang von Menschen, die ein geregeltes Leben ohne straffälliges Verhalten führen wollen. Hierbei werden insbesondere die zusätzlichen Arbeitsbelastungen diskutiert, aber auch der unterschiedliche Kontext, wodurch es nicht immer leicht ist, die theoretisch vorhandenen Möglichkeiten zu konkretisieren und dauerhaft umzusetzen.
Der Autor Klaus Jünschke kämpfte für die Rote Armee Fraktion (RAF) und wurde dafür verurteilt. Heute setzt er sich für Gefangen ein. Er war monatelang in den Justizvollzugsanstalten Köln, Siegburg und Rheinbach und hat dort mit Häftlingen gesprochen, die vor ihrer Haft wohnungs- bzw. obdachlos waren. Nach Haft werden sie mit größter Wahrscheinlichkeit dies wieder sein. Aus den Erzählungen über die Gründe, die zur Inhaftierung führten, aus den Berichten über die Haftsituation und die Zukunftsaussichten ist sein Buch „Gefangen & Wohnungslos“ entstanden. Es informiert die Öffentlichkeit über eine soziale Notlage, deren Behebung längst überfällig ist. Ein aufrüttelndes Plädoyer gegen die Armut in der Gesellschaft.
Film: The Road from Crime
Was können wir von Ex-Straffälligen lernen, die sich erfolgreich von ihrer kriminellen Vergangenheit distanziert haben ? Der Film unter Regie eines ehemaligen Täters, der jetzt als Bewährungshelfer arbeitet, ist Teil eines Projekts mit dem Ziel, Wissen zu teilen und Verständnis zu fördern, wie Menschen den Ausstieg aus der Kriminalität schaffen.
Großbritannien 2012, 49 min. Deutsche Untertitel. Mehr…