Aus dem ersten Testament und dem Buch der Thora lesen wir über den Propheten Mose. Als junger Mann ging Mose vom ägyptischen Königshof hinaus zu den Sklaven. Er kam in Kontakt mit seiner Herkunft. Wir erfahren nicht, ob er von seiner israelischen Abstammung wusste. Hier wurde Mose Zeuge von Gewalt an einem Hebräer. Offenbar – das könnte ein Teil seiner Persönlichkeit gewesen sein – erregte ihn die deutliche Ungerechtigkeit. Er sah sich um, ob keiner ihn sehe, schlug ihn in Verbundenheit zu seinem Volk tot und verscharrte ihn im Sand. (Ex 2,11f.)
Die Darstellung des Totschlags ist sehr knapp. Wir wissen wenig über die Situation. Allein die Diskussion darum bietet jedoch Anknüpfungsmöglichkeiten für Fragen zu Motiven und Hintergründen von Straftaten. Was führte dazu? Diese Frage betrifft jeden Gefangenen – sie ist im Prozess relevant und bestimmt über die Schwere der Schuld. Und sie ist wichtig für das eigene Verstehen und die Möglichkeit einer Aufarbeitung der juristischen und persönlichen Relevanz der Tat. Aus diesem Grund sei an dieser Stelle die juristische Seite der Tat wahrgenommen.
Das heutige deutsche Strafgesetzbuch urteilt in §212 Abs. 1:
„Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.” „In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.”
Absatz 2 definiert:
„Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.”
Entsprechend der Darstellung im Exodusbuch ist dies nicht gegeben. Da Mose im Exodusbuch für Gerechtigkeit der Hebräer eintritt, trifft die o.g. Definition eines Mordes nicht zu. Fischer/Markl sahen kein bewusstes Ermorden, auch wenn die zweite Gegenfrage des Hebräers am Tag nach der Tat, in der das Wort „umbringen” genutzt wird, als Mordvorwurf zu werten sei. „Eher handelt es sich um Totschlag, aus emotionaler Erregung oder im Zuge der Auseinandersetzung.” Für sie geschah die Tat nicht absichtlich und war vor allem ein Einsatz für die Gerechtigkeit, auch wenn er dadurch schwer schuldig geworden sei. Auch bei dieser Deutung besteht die Gefahr, die Tat zu bagatellisieren. Dass er sich vor der Tat umsieht, ob jemand ihn sehen könnte, spricht eher für ein Bewusstsein des Unrechts, das er begeht. Fischer/Markls Interpretation dient eher dazu, Mose positiv erscheinen zu lassen und als späteren Hüter des Rechts heraus stellen zu können. Auch im „Midrasch Schemot Rabba” (1882) ist die Tendenz zu sehen, das Verhalten des Mose als geringfügig oder vernachlässigbar darzustellen.
Bagatellisieren als Schamabwehr
Vielleicht ist, Fischer folgend, das Bagatellisieren eine Form der Schamabwehr. „Für die familienorientierten, gemeinschaftsbezogenen Menschen des Alten Israel war die Vermeidung von Beschämung und Schande von großer Bedeutung, was sich in der Auseinandersetzung mit Scham-Schande-Konflikten bei den israelitisch-jüdischen Verfassern des Alten Testamentes bemerkbar macht.” Die vorliegende Arbeit vermeidet diese Tendenz, da sie nach Ressourcen sucht, die sich im Text gerade aus der Anerkennung der Tat für die Gefängnisseelsorge ergeben.
Heute werden Vergehen in der Rechtsprechung auch unter Beachtung eines möglicherweise zugrunde liegenden Krankheitswertes beurteilt. Vielleicht würde man Moses Verhalten entsprechend der von der Klassifikation im ICD 10 unter der Ziffer F 60.3 einordnen: als emotional instabile Persönlichkeitsstörung bzw. als Persönlichkeit mit solchen Zügen. Dementsprechend hätte er „eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung.” Man würde eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren, diagnostizieren. Vor diesem Hinter-grund könnte mit Gefangenen ein Gespräch über psychologische Begutachtung aufgenommen werden.
Mose war mehr als ein Straftäter
Moses Tat wurde entdeckt, der Pharao erfuhr davon und Mose floh deshalb nach Midian. (Ex 2,14) Dass Mose floh, zeigt, dass er sich des Vergehens, das er begangen hatte, bewusst war. Nach Ex 2,15 trachtete der Pharao Mose nach dem Leben. Albertz stellte heraus, dass es dabei nicht da-rum ging, ihn vor ein Gericht zu stellen, „sondern dass er ihn durch seine Häscher aufspüren und liquidieren lassen wollte.” Die Flucht war für Mose der einzige Ausweg.
Mose war aber mehr als ein Straftäter. Helmut Utzschneider und Wolfgang Oswald (2013) stellten in ihrem Kommentar heraus, dass Mose in der Streitsituation mit den Hebräern (Ex 2,13f.) etwas von seiner Fähigkeit zeige, streitschlichtend einzugreifen. Allerdings werde ihm diese Autorität von den Hebräern hier nicht zugetraut. „Es ist aber wohl nicht in erster Linie der Widerstand der Hebräer, die ihn hier – zumindest fürs Erste – hat scheitern lassen, sondern die Eigenmächtigkeit und Gewaltsamkeit, mit der er seine Rolle als Retter ausgefüllt hat.” Von Mose konnte Großes erwartet werden. Mit dem Totschlag änderte sich aber sein gesamtes bisheriges Leben. Das Scheitern „hat für Mose […] schwerwiegende Folgen und bringt über viele Jahre Trennung von seinem Volk sowie jenem Ort, wo er aufgewachsen ist.” Durch die Flucht entging Mose zwar der Strafe, er trug aber die Folgen seines Handelns in Form jahrelanger Exklusion.
Paralelle zu heutigen Gefangenen
Mit dem Blick der Gefängnisseelsorge fällt die Parallele zu heutigen Gefangenen auf: geflohen oder zu Gefängnisstrafen verurteilt, sind sie ausgegrenzt aus ihrem bisherigen Lebensumfeld. Diese Ebene ihres eigenen Lebens können Gefangene symbolisch in der Flucht des Mose und deren Folgen für ihn finden. Es kann darüber gesprochen werden, was es bedeutet, das Lebensumfeld zwangsmäßig zu verlieren und die Folgen der Straftat zu tragen – verlorene Lebensträume, Beziehungsverlust und Ertragen der Exklusion gehören dazu.
Das Bagatellisieren/Verdrängen der Straftat des Mose in der Rezeption der Mose-Gestalt kann in der Seelsorge zur Anknüpfung an womöglich vorhandene Tendenzen dienen, zur Erhaltung eines positiven Selbstbildes die Bedeutung der Straftat zu verdrängen und klein zu reden. Bei Mose zeigt sich, dass gerade in der Anerkennung der Realität in der Begegnung mit Gott die Befreiung liegt. Auch wenn seine Straftat im Affekt erfolgte, bleibt sie Unrecht und hat Folgen. Es wird hier gezeigt werden, dass Mose erst, als er sich dem ehrlich in der Begegnung mit Gott stellt, der Exklusion entrinnen kann. Moses Lebensgeschichte eröffnet Raum für Fragen nach der Jugend und dem Erwachsenwerden. Wem gegenüber verhielt/verhalte ich mich loyal, wem fühle ich mich zugehörig? Die Diskussion um Mord oder Totschlag in der Moseliteratur kann in der Seelsorge aufgenommen werden, um mit Gefangenen über die Triebkräfte zu sprechen, die zur Straftat geführt haben. Heiligt der Zweck die Mittel? Welche Auswirkungen haben Straftaten für die Opfer? Was bedeutete es für die Angehörigen des Opfers, diesen Menschen verloren zu haben? Was bedeutete die Exklusion für die Angehörigen des Täters/der Täterin? Gesamter Artikel…
Antje Stüfen, Leipzig | Aus: Seelsorge und Strafvollzug.ch