Das Outing von queeren MitarbeiterInnen in der katholischen Kirche hat deutlich gemacht, welche Vielfalt in ihr verborgen ist. Für mich trägt diese Vielfalt schon länger aufgrund meiner Arbeit als Gefängnis-Seelsorgerin für inhaftierte Frauen Namen und Gesichter. Zunächst war ich erstaunt, wie viele Menschen es gibt, die sich in ihrer Identität und ihrer sexuellen Ausrichtung auf je eigene Weise von dem unterscheiden, was ich früher als normal betrachtete.
Das Outing in der vergangenen Woche betraf nur kirchliche MitarbeiterInnen. Und es ist gut, sie mit einer Solidaritätserklärung zu umarmen. Trotzdem freue ich mich auch für das lesbische Paar auf der Frauenstation meiner JVA oder für die Gefangene, die sich mit einem männlichen Vornamen rufen lässt, weil er für ihr oder sein Empfinden passender erscheint, dass sie jetzt auch offiziell wissen dürfen, dass es diese Vielfalt genauso unter den SeelsorgerInnen gibt. Queere Gefangene habe ich oft, trotz ihres langen Leidensweges, als sehr friedfertig erlebt. Viele von ihnen haben sich gerne auf Gespräche mit mir eingelassen und übten Nachsicht mit mir, wenn in meinen Äußerungen Unverständnis oder mangelnde Sensibilität zum Vorschein kamen. Es gehört zu meiner Lebensgeschichte und ist für mich deswegen auch eine Form von Authentizität. Ich bin ihnen dankbar dafür, denn nur wenn ich meinerseits wegen meiner Fehler und Schwächen nicht gleich abgeurteilt werde, ist ein echtes Gespräch möglich, bei dem sich alle einen Schritt näherkommen.
Nicht Gleiches mit Gleichem vergelten
Man kommt nicht weiter, wenn man Gleiches mit Gleichem vergilt, wenn man jetzt die aburteilt oder ihrerseits ausgrenzt, die sich schwertun, ihre Erziehung hinter sich zu lassen, das vergangene Unrecht zu verstehen und neue Umgangsformen einzuüben (zu denen auch veränderte Arbeitsverträge gehören). Mag sein, dass viele, die sich von offizieller kirchlicher Seite öffentlich äußern, noch wenig verstanden haben. Und oft ist eine gut gemeinte Äußerung tatsächlich alles andere als gut. Die Gefangenen, denen ich begegnet bin, waren immer sehr großzügig. Sie haben mir ihre Hand gereicht, ohne Angst davor, dass ich sie ausschlagen könnte – vielleicht, weil bereits eine Beziehung da war oder weil sie es trotz allem als wohltuend empfanden, dass ich es gut mit ihnen meinte.
#OutInChurch ist ein weiterer Grund für alle, die sich zur Kirche zählen, sich mit offenen Augen und Ohren in den Wind der Geschichte zu stellen, vor dem die Kirche sich immer wieder zu schützen suchte. Missbrauchsopfer, queere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, viele andere Leidende, die Flüchtlinge oder die Gefangenen in Mosambik und Malawi, die ich persönlich in unmenschlichen Situationen erlebt habe, nehmen uns in ihr Tal der Tränen mit hinein. Keine und keiner will dort lange umherirren oder sich im Kreis drehen. Die Sichtweise, die Sensibilität, die Lebensgeschichte, die Kultur und die Fertigkeiten aller werden gebraucht, um nicht nur schnell die nächstbeste Anhöhe zu erklimmen, sondern wieder auf einem heiligen Berg stehen zu können.
Wie lange dauert es, bis anderer Wind weht?
Menschen, die leiden, brauchen das Gefühl, dass jemand mit ihnen im Sturm steht. Aber sie brauchen auch jemand, der ihnen die Zuversicht vermittelt, dass nach dem Sturm wieder die Sonne scheinen kann. Diese Zuversicht muss ich mir als Seelsorgerin in meinem Inneren täglich neu erkämpfen. Es wäre einfacher, meine Ohnmacht zu beklagen, mit dem Finger auf andere zu zeigen, die mehr Verantwortung tragen. Es wäre leichter auszusteigen – und für viele auch verständlicher. Wie lange wird es dauern, dass in der Kirche ein anderer Wind weht? Wie lange wird es dauern, dass es auch in der Gefängnisseelsorge mehr Frauen gibt und eine weibliche Sicht und Sensibilität mehr wahrgenommen und geschätzt wird?
Zählt nicht, welches Geschlecht jemand hat
Um die Bibel besser zu verstehen habe ich einst Theologie studiert. Sie ist mein Fels in der Brandung, sie schenkt mir Träume und Visionen. Mir gefällt, was der Stadtdekan von Frankfurt Johannes zu Eltz in einem Gespräch mit der Limburger Kirchenzeitung über die Bibel sagt: „Die Schrift ist einfach unwiderstehlich. Und subversiv. Mag sie noch so harmlos und weltfern daherkommen. Wenn man immer wieder dieses Wort in sich widerhallen lässt, dann entfaltet es ein Eigenleben und macht einen kritisch auch dort, wo man es nicht für möglich gehalten hätte.“ (Der Sonntag, Nr. 5 2022, S. 13)
Für das Verständnis der biblischen Geschichten brauche ich das Zeugnis und den gelebten Glauben anderer. Am Ende zählt nicht, welches Geschlecht jemand hat, welche Sprache gesprochen wird oder wie jemand sein Menschsein definiert. Ich glaube an eine Zukunft der Kirche, wenn wir uns alle um mehr Menschlichkeit, echtes Interesse aneinander und herzliche Geschwisterlichkeit bemühen. Etty Hillesum, der als junge Frau in Auschwitz ihr Leben geraubt wurde, wollte im tiefsten Tal der Tränen das „denkende Herz der Baracke“ sein. König Salomo bat um ein hörendes Herz, um Gott ein wohnliches Haus in dieser Welt zu errichten. Wenn kirchliche MitarbeiterInnen vorangehen und sich um ein hörendes und denkendes Herz bemühen, möchte ich mit dabei sein. Selbstverpflichtungserklärung des Bistum Würzburg…
Doris Schäfer, JVA Würzburg | Foto: Hartmann