Hans Gerd Paus, Gefängnisseelsorger in der niederrheinischen JVA Geldern, stellt sich vielen Fragen. Zu wesentlichen Fragen erhielt er Antworten „aus dem Leben“. So war er als Bergmann in der Zeche tätig, philosophierte als Hüttenwirt auf einem Berg oder wohnte in einem VW Bus für 12 Monate. Bald will Paus aus dem Knast raus und sich auf einen 12.000 langen Weg machen. Was ihn dazu antreibt?
Eine Geschichte vom Wochenende. Ich war in Bielefeld in der Stadt. Am Straßenrand saß ein mittelloser Mensch. Vor ihm der bekannte Trinkbecher zur Sammeldose umfunktioniert. Daneben ein Schild. Selbstgestaltet. Erst beim zweiten Vorbeigehen las ich das Schild. “Mir geht es nicht gut. Ich bitte um ein Gespräch.“ Das war für mich der Hammer, denn das Schild traf mich sehr. So sprach ich ihn an und es entwickelte sich ein toller Austausch. Er war ein sehr positiv eingestellter Mensch, der darunter litt, dass er so gut wie nicht mehr beachtet wird. Kein Vorwurf, kein Wehklagen. Fast klang seine Erzählung wie eine nüchterne Darstellung. Wir sprachen eine ganze Weile. Dann fragte er mich – und die Frage verunsicherte mich zutiefst – darf ich sie heute zum Essen einladen?
Ich wusste fast nichts zu sagen und hörte mich dann sagen “ja, gerne”. Es war wie in einer verkehrten Welt, und doch spürte ich, dass es richtig war, diese Einladung anzunehmen. Wir gingen zu einem Döner Schnellimbiss und er fragte mich, was ich essen wolle. “Eine Salattasche” antwortete ich ihm. Er verstand nicht und ich erklärte: ” einen Döner ohne Döner” Er lachte sich schlapp und bestellte zwei Döner ohne Döner. Das angebotene Getränk lehnte ich ab, es fühlte sich unwirklich an, Gast zu sein bei einem Menschen, der doch ohne Mittel dasteht. Es war ein toller Abend. Er machte einen sehr glücklichen Eindruck und ich war zutiefst irritiert.
Fällt dir das Geben auch leichter als das Nehmen Warum ist das so? Fühlen wir uns stark, wenn wir Geber sind? Warum verunsichert die Rolle des Nehmers? Warum bilde ich mir etwas auf Geben ein, wenn ich nicht einmal dankbar nehmen kann?
Als wir uns verabschiedeten fragte er mich: “Darf ich Ihnen ein kleines Geschenk machen?” Wieder überkam mich das so unsichere Gefühl der Ohnmacht. So antwortete ich: “Warum das denn?” Er kramte aus dem Inneren seiner Jacke ein kleines Passfoto von sich heraus. Und sagte dann in mein verunsichertes Gesicht: “Wenn Sie gleich gehen, werde ich noch lange an unser Gespräch denken, vergessen werde ich sie nicht, und ich möchte einfach von Ihnen auch nicht ganz so schnell wieder vergessen werden.” Ich nahm das Foto, es hängt jetzt in meinem Wohnmobil.
Bei wem möchte ich in Erinnerung bleiben? Warum eigentlich? Was macht das mit meinem Leben sicher sein zu dürfen, nicht vergessen zu werden?
Wissen Sie – sagte er zu mir – ich schau gerne in den Himmel, ich liebe die Wolken, oder nachts auch die Sterne. Ein Kollege wollte mir einmal einen Tipp geben, er schaue immer auf den Fußboden, damit er nicht ständig in Hundescheiße trete. Ich solle das auch so machen. Meine Antwort war, er soll sich ruhig auf die Scheiße konzentrieren, ich konzentriere mich auf den Himmel.
Worauf richte ich eher den täglichen Blick, auf den Himmel oder auf die Scheiße? Bin ich ein positiver Mensch, oder ein negativer Mensch? Wird in meinem Denken eher alles schief oder gut laufen?
Schon bevor ich mein Theologiestudium begann, übte die Bibel auf mich eine Faszination aus, die bis heute nichts an Kraft verloren hat. Das Studium diente in gewissermaßen auch dazu meine Neugierde zu befriedigen, was es denn mit dem Gott auf sich hatte, den ich in der Kindheit und Jugend kennengelernt hatte. Aber ich war mir auch bewusst, dass ich diese Neugier auf diesen Gott, der längst zu “meinem” Gott geworden war, nicht allein durch das Studieren von Büchern stillen konnte. Ich wollte erleben. Ich wollte IHN erleben.
Als Bergmann auf der Zeche
Was hat es mit der Auferstehung auf sich?
Klarheit hatte ich insofern, dass mir das kein Mensch und kein Buch dieser Welt so erklären könnte, dass ich mich mit der Antwort zufrieden geben würde. Ich wollte sie erleben. Nicht erst nach dem Tod, sondern „spielerisch“ schon im hier und jetzt. Ich grübelte lange und nach dem zweiten Semester Theologie bewarb ich mich schließlich als Bergmann auf der Zeche Pattberg zwischen Kamp-Lintfort und Moers. Ich wollte jeden Tag „tiefer als die Toten begraben immer wieder hoch kommen“. So formulierte ich es damals. Ich wurde genommen, und schon bald fuhr ich ein. 1100 Meter unter der Erde. Bin jeden Tag wieder hoch gekommen. Es war eine verrückte Zeit. Körperlich sehr anstrengend. Geprägt hat mich auch der Wohnort in diesen Monaten. Ein Wohnheim der RAG, das nur von Türken und mir, als einzigem Deutschen, bewohnt war. Wenngleich ich alles nur auf Zeit geplant hatte, prägte mich diese Zeit. In meinem Menschenbild und in meiner Wertschätzung gegenüber der Schöpfung. In meiner Faszination nicht zu wissen, ob einen Kilometer über mir die Sonne schien, oder die Welt zusammenbrach. Nie zuvor ahnte ich, dass ich letztendlich gehalten bin von einem Gott und mich kein Mensch hier unten wieder rausholen kann, wenn alles über über mir zusammenbricht.
Hüttenwirt in den italienischen Alpen
Warum geschehen alle wesentlichen Dinge in der Bibel auf einem Berg?
Die 10 Gebote wurden Mose auf einem Berg überreicht. Der Berg der Verklärung ist vielen ein Begriff, und selbst Golgota ist, wenngleich kein Berg, doch eine Erhöhung in der Landschaft. Ich musste also auf einem Berg leben.Erleben, was es mit mir macht, wenn ich die platte Landschaft des Münsterlandes verlasse. und dass nicht nur einen Urlaub lang. Viel länger, viel intensiver, viel abhängiger von der Schöpfung. Ich wollte wirklich verschmelzen mit dem Berg und sehen, was er mit mir macht. So bewarb ich mich 1992 beim CAI (Club Alpino Italiano) auf die Stelle eines Hüttenwirtes in den italienischen Alpen. Inzwischen hatte ich meine Kaplanstellen hinter mich gebracht und die Pfarrerstelle stand bevor. Nach einem Gespräch mit dem Bischof konnte es losgehen. So wurde ich über einen Bekannten tatsächlich für die Saison 1993 Hüttenwirt auf 3.194 Meter über N.N. Das Becherhaus, so heißt dieses Berghaus, liegt auf einem Gipfel, umgeben von Gletscher (damals zumindest). Wasser erhielt ich nur, wenn ich Schnee zum Schmelzen brachte. Feuer nur, indem ich Holz aus dem Tal hochholte und in der Sonne trocknen ließ. Die Erlebnisse waren überwältigend. Wieder körperlich anstrengend, aber den Geist öffnend. Das Gefühl „Gott nahe zu sein“ war real. Aber auch das Gefühl auf ihn angewiesen zu sein. Der Natur ausgesetzt lehrte mich die Zeit die Demut. Nie zuvor sah ich einen solchen Sternenhimmel, nie zuvor wusste ich klares Wasser so zu schätzen, wie in dieser Zeit und nie zuvor war ich so dankbar, wenn die Sonne mich und die Hütte wärmte.
Für 12 Monate im VW T4 wohnen
Die Aussage “Der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann (Mt 8,20)” beschäftigte mich lange. Sah ich doch die Priester der Kirche (ich kannte damals in der Kindheit und Jugend nur Kapläne und Pastöre) durchaus residieren. Das Pfarrhaus in meiner Heimatstadt hatte einen Wassergraben drumherum und ein eigenes Wäldchen hieß Pastorsbusch. Auch die Kaplanei war ebenso ein schickes Haus. Wieso lebten und leben wir Kirchenleute nicht weniger sesshaft. Die Frage trieb mich als Kind und Jugendlicher um. Die Frage stellte sich auch in Bezug auf mein Leben und ich wollte eine Antwort.
Ich zog für 12 Monate in einen VW T4, der zu einem kleinen Wohnmobil umgebaut war. 2008 wechselte ich die Stelle von Münster nach Geldern. In der Zwischenzeit sollte ich in Westerkappeln seelsorgliche Dienste tun. Die Gelegenheit war gut. So stellte ich mich mit meinem VW auf den Parkplatz vor dem Pfarrheim und lebte ein Jahr im Auto. An eine Bullitür zu klopfen fiel den Menschen leichter, als die Klingel am Pfarrhaus zu betätigen. Am morgen ein paar frische Brötchen vorbeigebracht öffnete die Bullitür und das Gespräch. Fromme und Kirchenferne tranken in meinem Bulli mit mir einen Kaffee, quatschten mit mir und führten tiefe Gespräche. Die soziale Einbindung bot mir mehr Heimat als eine Pfarrhauswohnung.
12.000 km unterwegs sein
Warum sind Menschen, die in der Bibel eine besondere Rolle spielten auf dem Weg?
Von A nach B, oder auch den Weg der inneren Umkehr. Sie sind unterwegs. Schauen Sie sich mal die Reisen des Paulus an. C02 neutral durch den ganzen Orient. Was trieb ihn so sehr, was schenkte ihm diese Energie? Und: Was macht das mit mir, unterwegs zu sein? Nicht einen Spaziergang anzutreten, sondern wirklich mit dem Weg eins zu werden? Kirche selbst nennt sich: Volk Gottes auf dem Weg. Spüren kann ich das nur sehr fragmentarisch. Erlebe ich meine Kirche doch eher sesshaft und behäbig. Ich muss auf den Weg. Meine Wohnung verlassen. Auch die Menschen verlassen, die mir wichtig sind. Meine Habe verlassen und aufbrechen. So begann ich nach und nach alles zu verschenken. Auch die Dinge, an denen mein Herz hing. Nur noch das Wesentliche sollte mir bleiben. Und dann möchte ich ein Kreuz über Europa laufen, von Nord nach Süd und von Ost nach West. Vom Nordkapp nach Sizilien und von Istanbul nach Santiago de Compostella und noch bis Finesterra, dem damals geglaubten Ende der Welt. Circa 12.000 km.