Nikodemus, so berichtet es das Johannes-Evangelium kam in der Nacht zu Jesus. Er gehörte zur religiös-jüdischen Leitungspersönlichkeit seines Volkes und nutzte den Schutz der Dunkelheit für ein persönliches Gespräch mit diesem so erstaunlichen wie geheimnisvollen Wanderprediger und Heiler aus Nazareth. Da hört er, wie Himmel und Erde verbunden sind im Menschen, und wie erst das Hinabsteigen ein Aufgehoben-sein erfahrbar werden lässt.
In der für das Johannesevangelium typisch geheimnisvollen und bildreichen Sprache erzählt diese nächtliche Begegnung des Nikodemus mit Jesus von tiefer menschlicher Glaubenserfahrung. Eine Erfahrung, die man nicht machen kann, die vielmehr geschieht hinein in die Dunkelheit des Lebens. Wir können sie zulassen in der Würdigung der Nacht oder uns verschließen in der Weigerung, anzusehen, was ist.
Wie oft geschehen Nachtgespräche?
Da ist der Mann, dessen geliebte Frau in ihrer Alzheimererkrankung wie in einer fernen Welt zu verschwinden scheint. In seinen nächtlichen Selbstgesprächen ist er mit seiner Besorgnis und Angst allein. Da ist die Frau, die versucht mit Zuversicht und Fürsorge ihren Alltag zu gestalten im Wissen um die wuchernde Krebserkrankung in ihr. Und die Mutter und der Vater in ihrer Sorge um die Kinder, die sie in eine Welt voller Krieg hinein aufwachsen sehen. Da ist eine Person, die lange Zeit ihres Lebens nach außen eine Fassade gibt, angeglichen den Ansprüchen dessen, was normal ist, obwohl sie eigentlich eine andere sein will. Ihre Nachtgespräche mit einem verborgenen Selbst sind geprägt von Leid und Sehnsucht. Da ist der Inhaftierte, der nachts mit sich selbst redet oder am vergitterten Haftraum-Fenster mit einem Mitgefangenen. Da ist die Wut in Menschen aus tiefer Verletzung und Beschämung, die sie einsam und gewalttätig werden lässt.
Gott in jedem Menschen
Es sind diese menschlichen Erfahrungen, die uns in Nachtgespräche führen, wenn das Leid auftaucht aus dem Inneren und nach Worten ringt. Wenn die Sehnsucht, die Trauer, die Angst, die Hilflosigkeit, die Wut wie aus dem Dunkel auftauchen, um endlich angesehen zu werden „Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn“, sagt Jesus zu Nikodemus.
Im biblischen Sprachgebrauch sind der Menschensohn, die Menschentochter zunächst der Mensch überhaupt in seinem Leben in Freude und Leid. Dann, mit den Berichten zu Jesus, wurde das Wort zu einer besonderen Bezeichnung für diesen Menschen, der von Gott ist und zu Gott zurückkehrt. Die eine Bedeutung hebt die andere nicht auf, Jesus hat dieses Von-Gott-sein in jedem Menschen sehen können. Immer wieder hat er in den vielen Begegnungen Menschen ermutigt, die „Quelle unendlichen Lebens“ in sich zu entdecken.
Herabsteigen vom „Himmel“
So laden seine Worte zu Nikodemus in jener Nacht ein, herabzusteigen vom Himmel in alles, was Erde ausmacht, in das Dunkle und Schwere, das Aufgebrochene und Zerbrochene, in das vom Leben Zermalmte, den Staub des Daseins, um da unten, tief in der Nacht, auftauchen zu lassen, eine Geliebte, ein Geliebter zu sein. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er in Jesus sich selbst hingab, damit jeder und jede, der oder die sich darin einlassen kann, nicht verloren geht – so, von mir übersetzt, klingt es im Johannesevangelium. Wie in der Gestalt des vom Kreuz herabsteigenden Christus von der Holzbildhauerin Marion Jochner (siehe Bild) dargestellt, ist sein Arm weit in das Dunkel jeder menschlichen Nacht gereicht. Die eigentliche und glaubwürdige Kreuzverehrung findet in unseren Begegnungen statt, in denen wir einander diese Hand reichen, würdigend das Leid, das uns so nah ist, und zugleich erkennend, dass da auch die Quelle unendlichen Lebens ist.
Christoph Kunz | Johannes 3, 13–17