Patrick H. sitzt in seiner Zelle in der JVA Berlin-Plötzensee und erzählt von dem Tag, den er wohl nie vergessen wird: Als die Polizei gegen seine Tür hämmert, ihn verhaftet und ins Gefängnis bringt. Dabei wurde Patrick H. nie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er konnte lediglich seine Geldstrafe nicht zahlen. Der 28-Jährige ist damit nicht allein: Mehrere Tausend Menschen in Deutschland erleben jedes Jahr das Gleiche.
Viele von ihnen haben nicht einmal vor Gericht gestanden. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind arm. Ist das Zufall? Oder haben es Menschen mit mehr Geld im deutschen Justizsystem leichter? Wer kein Geld für einen Anwalt hat, steht im Zweifel ohne Verteidigung vor Gericht. Denn Pflichtverteidiger werden schätzungsweise nur in zehn Prozent der Fälle eingesetzt, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr im Raum steht und in einigen Ausnahmefällen.
Selten Besserung
Die Machtverhältnisse spiegeln sich in der Justiz wieder. Kann man im Gefängnis landen ohne Anklageschrift, Verteidigung und Richterspruch? Reicht ein “hinreichender Tatverdacht”? Zumindest ist dies bei der Verhängung einer Geldstrafe so. Wenn diese nicht gezahlt werden kann, kann man in Haft kommen. Es betrifft Menschen mit wenig Geld und ohne Wohnung, Drogenabhängige und Kleinkriminelle. Die Ersatzfreiheitsstrafe greift sich Menschen, die Geldstrafen nicht zahlen können, zu denen sie ein Gericht verurteilt hat. Und steckt sie in Haft. „Ersatz“ klingt ein wenig harmlos, so als wäre das gar keine „echte“ Bestrafung. Nicht wenige sind es, sondern Studien zufolge jeder Zehnte Inhaftierte in Deutschland. Der Knast macht sie nicht zu besseren Menschen. Im Gegenteil, Gefängnisse verschärfen Lebenslagen vielmehr – und bringen der Gesellschaft selten Besserung.
Menschen mit mehr Geld
Wer genug Geld für seine Verteidigung ausgeben kann, sucht sich Anwälte wie Nikolaos Gazeas. Seine Kanzlei in Köln zählt zu den Topadressen für Wirtschaftsstrafrecht in Deutschland. Kanzleien dieser Art verlangen Stundensätze um die 400 Euro. Gazeas hat Beschuldigte in Cum-Ex-Strafverfahren vertreten und die Verteidigung im Schmiergeldprozess um ehemalige Siemens-Manager koordiniert. Er schätzt: 80 Prozent seiner Fälle werden entweder eingestellt oder enden mit einem Freispruch. “Mehr Geld gleich bessere Verteidigung gleich bessere Chancen vor Gericht, das ist in vielen Fällen leider zutreffend.” Die “ARD Story” hat sich umgesehen in deutschen Gerichtssälen und Gefängnissen, spricht mit Gefangenen, Verurteilten und Beschuldigten, mit RichterInnen, Staatsanwälten und dem Leiter eines Gefängnisses. Das Reportageteam konfrontierte Bundesjustizminister Marco Buschmann mit der Frage, wie er die deutsche Strafjustiz gerechter machen will und ob seine Reformvorschläge dafür ausreichen.
1 Rückmeldung
Neues Gesetz ab 2024.
Das „Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ ist beschlossen. Am 2. August 2023 wurde es im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und soll ab 2024 in Kraft treten (BGBl. 2023 I Nr. 203 vom 2.8.2023). Die Änderung des Umrechnungsmaßstabes von Geld- in Ersatzfreiheitsstrafe sollte eigentlich zum 1. Oktober 2023 greifen. Auf Antrag der Bundesländer wurde diese Reform jetzt auf den 1. Februar 2024 verschoben.
Umrehnungsmaßstab (§43 StGB Satz 2): Bei allen Geldstrafen, die ab dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig werden, werden zukünftig durch einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe zwei Tagessätze der Geldstrafe getilgt (Artikel 1, Nr. 3b).
Die Halbierung betrifft die Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie, gemeinnützige Arbeit. So sollen zukünftig alle Tilgungsverordnungen die Zahl der Arbeitsstunden bestimmen, die geleistet werden müssen, um „einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe zu erledigen“ (Artikel 4). Ziel der Änderung ist es „auch die Anzahl der zur Erledigung der Ersatzfreiheitsstrafe notwendigen Stunden freier Arbeit zu halbieren, um den Betroffenen die Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe zu erleichtern“ (Drs. 20/5913, S. 77, S.40).
Weitere Änderungen
Nach §459e StPO Abs. 2 sind Verurteilte zukünftig vor der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe darauf hinzuweisen, dass ihnen gemäß §459a Zahlungserleichterungen oder freie Arbeit nach Art. 293 EGStGB bewilligt werden können (Artikel 2, Nr. 3a).
Besteht der „Anlass zur Annahme, dass der Verurteilte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, hat der Hinweis in einer ihm verständlichen Sprache zu erfolgen“ (Art. 2 Nr. 3a).
Von der Vollstreckungsbehörde oder der Gerichtshilfe kann zukünftig eine nichtöffentliche Stelle personenbezogene Daten erhalten, um die Geldstrafe mittels Zahlungserleichterungen zu tilgen oder die Ersatzfreiheitsstrafe mittels freier Arbeit abzuwenden (Art. 2. Nr. 3b).
Der §463d StPO wurde dahingehend geändert, dass die Gerichtshilfe vor einer Entscheidung über die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe einbezogen werden soll(Art. 2 Nr. 5).
Bei der Bemessung der Tagessatzhöhe achtet das Gericht zukünftig darauf, dass dem Täter „mindestens das zum Leben unerlässliche Minimum seines Einkommens verbleibt“ (Artikel 1, Nr. 2).